Das Traumkind auf dem Weg zurück zur Kindheit
Das Rahmengedicht als Wegweiser in Alices Wunderland
Lewis Carrolls Alice-Bücher, Alice’s Adventures in Wonderland (1865) und Through the Looking-Glass and What Alice Found There (1871), sind mehr als Kinderbücher. Zwar können sie auch als Spaß- und Nonsenstexte von Kindern gelesen werden, letztlich aber richten sie sich in erster Linie an den Erwachsenen, dem mittels der Texte eine Möglichkeit gegeben wird, sich zurück in eine kindliche Welt des Spiels zu begeben. Wie Virginia Woolf es in einer für sie charakteristischen Hyperbel ausdrückte: „[…] the two Alices are not books for children; they are the only books in which we beco me children“. Indem sie Alice auf ihrem Weg durch das Wunderland und das Land hinter dem Spiegel begleitet, erfährt die Leserin eine Rückkehr in eine ursprüngliche Welt des Spiels und der Kindheit.
Diese Wegmetapher entstammt dem Gedicht, das Alice’s Adventures in Wonderland vorangestellt ist; es leitet nicht nur Alices Wanderung durch das Wunderland ein—„Our wanderings to guide“—, sondern vielmehr ist dort auch vom Pilger die Rede: die Erzählung soll in der Erinnerung wie der Blumenkranz eines Pilgers, „pilgrim’s withered wreath of flowers,“ behandelt werden. Damit verwendet Lewis Carroll vor Beginn der eigentlichen Erzählung von Alices Abenteuern eine Bildlichkeit, die darauf verweist, dass der Leser die Geschichte als Relikt seiner eigenen Reise in die Vergangenheit betrachten soll.
Die Reflexion des Entstehungsprozesses der Erzählung im Prologgedicht von Alice’s Adventures in Wonderland sowie die Betonung der Erinnerung—„in Memory’s mystic band“—deuten auf einen Sprecher hin, der nostalgisch auf die Abenteuer des Kindes Alice zurückblickt wie auf etwas geheimnisvoll Erinnertes. Damit setzt Lewis Carroll am Anfang und auch am Ende der Alice-Bücher, in den Rahmengedichten sowie im Prosa-Schluss von Alice’s Adventures in Wonderland, einen sentimentalen Ton, der sich von der Darstellungsart innerhalb der Erzählungen unterscheidet. Im Verlauf ihrer Abenteuer befindet sich Alice nur selten in der vom Gedicht beschworenen paradiesischen Eintracht mit der Tierwelt, „in friendly chat with bird or beast“; im Gegenteil empfindet sie die Wesen, auf die sie in den Phantasiewelten trifft, oft als „unpleasant“, „rude“, in der Fortsetzungsgeschichte Through the Looking-Glass gar als „unsatisfactory“.
Es lässt sich folglich ein Spannungsverhältnis zwischen Innen und Außen, Rahmengedichten und Erzählungen feststellen, das im Gesamtwerk Lewis Carrolls immer wieder vorkommt, in den Alice-Büchern jedoch am deutlichsten in den Vordergrund tritt: die Rahmengedichte sind mit Mustern der Gebrauchslyrik des 19. Jahrhunderts durchsetzt, die den Zeitgeschmack Lewis Carrolls reflektieren; die folgenden Erzählungen von Alices Abenteuern setzen sich davon ab. Gerade aber dieser Kontrast ist als Hinweis für die Leserin ernst zu nehmen, denn er zeigt, dass die Gedichte keinesfalls ‚schmückendes Beiwerk’ zu den Erzählungen sind, sondern dass es sich bei ihnen um integrale Bestandteile handelt, die weit über eine bloße Darstellung des biographischen Hintergrunds zur Entstehung der Texte hinausgehen. Aufgrund ihres sehnsüchtigen und sentimentalen Tons, der auf ernsthafte Weise die Nostalgie des erwachsenen Sprechers für die Kindheit ausdrückt, bauen die Gedichte Erwartungen auf, die in der Folge gebrochen werden: die Erzählungen bieten gerade keine verklärte Kindheitsvision an, sondern stellen eine Welt dar, die vom (bisweilen sehr ernsten) Spiel geprägt und die somit eine Kinderwelt ist. Damit wird der (erwachsenen) Leserin eine Möglichkeit gegeben, den Weg in die Kindheit selbst zu beschreiten und diesen nicht nur zu beobachten. Die Sehnsucht, die der Sprecher der Rahmentexte zum Ausdruck bringt, wird damit anders beantwortet als erwartet, und zwar gerade dadurch, dass die zunächst aufgebauten Erwartungen nicht erfüllt werden: Im Unerwarteten besteht so die ‚Erlösung’ des Lesers aus der von ihm mit dem Sprecher zu teilenden Sehnsucht; gleichzeitig wird ihm in dieser Innenwelt, die er betritt, aber auch vor Augen geführt, dass sie sich ihm nicht dauerhaft erhalten kann. Dennoch bietet sie eine Möglichkeit, hin und wieder, nämlich bei jedem Lesen der Erzählungen, den Weg zurück in ein Kinderland zu beschreiten. Der Anfang dieses Weges liegt in den Rahmengedichten.
Man betritt die Phantasiewelten von Alices Abenteuern also nicht unmittelbar, sondern trifft zunächst auf jene einleitenden Gedichte. Sie sind den Erzählungen vorangestellt, und in ihnen tritt der Sprecher in aller Deutlichkeit hervor, wodurch er die fiktionale Geschichte mit realem Erleben verbindet. Es ist der Poet in seinem wörtlichen Sinn, der hier erscheint: der Schöpfer der Geschichte, der die Ereignisse schmiedet, die im Folgenden erzählt werden—„its quaint events were hammered out.“ Das Hämmern erscheint hier als „dichtungstheoretische Metapher romantischen Ursprungs,“ wie sie bereits in William Blakes Gedicht „The Tyger“ verwendet wird (s. dazu Černy, „Autor-Intention“).
Das Gedicht, das Alice’s Adventures in Wonderland vorangestellt ist, beginnt mit einem Rückblick auf jenen Nachmittag, an dem die Erzählung entstand, während eines Bootsausflugs am 4. Juli 1862 von Oxford nach Godstow, an dem neben den drei Töchtern des Dean Liddell noch Lewis Carrolls befreundeter Kollege Robin Duckworth teilnahm:
Duckworth and I made an expedition up the river to Godstow with the three Liddells: we had tea on the bank there, and did not reach Ch. Ch. [Christ Church] again till quarter past eight […]. [On which occasion I told them the fairy-tale of ‘Alice’s Adventures Under Ground,’ which I undertook to write out for Alice, and which is now finished (as to the text) though the pictures are not yet nearly done. Feb 10, 1863].
Im Gedicht, das der Erzählung von Alices Abenteuern im Wunderland vorangestellt ist, gestaltet sich dieser Rückblick wie folgt:
All in the golden afternoon
Full leisurely we glide;
For both our oars, with little skill,
By little arms are plied,
While little hands make vain pretence
Our wanderings to guide.Ah, cruel Three! In such an hour,
Beneath such dreamy weather,
To beg a tale of breath too weak
To stir the tiniest feather!
Yet what can one poor voice avail
Against three tongues together!
Der Sprecher erinnert den Nachmittag als „golden“ und gibt damit den verklärenden Ton des Gedichts vor. Bei Lewis Carroll ist jenes Attribut „golden“ vor allem mit dem Thema der Kindheit verknüpft. Dies wird schon in seinem frühen Gedicht „Solitude“ (1853) deutlich:
Ye golden hours of Life’s young spring,
Of innocence, of love and truth!
Bright, beyond all imagining,
Thou fairy-dream of youth!
I’d give all wealth that years have piled,
The slow result of Life’s decay,
To be once more a little child
For one bright summer-day. (CW 860-61)
Der Sprecher blickt sehnsüchtig auf die Kindheit zurück und wünscht sich, wieder Kind zu sein und jene goldenen Tage noch einmal erleben zu dürfen. Das Attribut „golden“ besitzt dabei „eine eigene Topik,“ weshalb Carroll „nicht in erster Linie an das Wetter dachte, sondern dem Moment der Entstehung ein Wertattribut verleihen“ wollte.
Die Erinnerung an die Kindheit ist dabei der Grundstoff für ein Wiedererleben; dieser Gedanke findet sich etwa in Friedrich Rückerts Gedicht „Die goldne Zeit“:
Die goldne Zeit ist nicht entschwunden,
Denn sie ist ewig neu und jung […]
So laßt das Weh, das euch betroffen,
Und seid zu neuer Lust bereit;
Erbauet aus den goldnen Stoffen
Sich jeder seine goldne Zeit.
(Ausgewählte Werke 67-68)
Indem Carroll die Vergangenheit als ‚goldene Welt’ darstellt, verklärt er die Erinnerung daran: „Die Erinnerung ist nämlich die Idealität, und hat darum ein ganz anderes Gewicht, eine ganz andere Bedeutung als das im Grund gleichgültige Gedächtnis. Die Erinnerung stellt den ewigen Zusammenhang im Leben her, sie möchte dem Erdenleben einen Tenor geben, es gleichsam auf einen Atemzug, auf einen Ausdruck reduzieren“ (Kierkegaard, Stadien auf dem Lebensweg 10). Der rührende Versuch, die tatsächlichen Wetterbedingungen am 4. Juli 1862 zu erforschen, führt zu einer Ernüchterung, wie Martin Gardner feststellt: „It is with sadness I add that when a check was made in 1950 with the London meteorological office […] records indicated that the weather near Oxford on July 4, 1862, was ‘cool and rather wet’“. H. B. Doherty, der sich mit „The Weather on Alice in Wonderland Day“ befasste, fand hingegen mittels der Wetterkarten aus der Times vom 4. Juli 1862: „the solar maximum temperature suggests a good sunny spell, probably, though not necessarily, in the afternoon“. Dem entgegen stehen die Aussagen Duckworths und der erwachsenen Alice Liddell, die sich gleichermaßen an einen sonnigen Tag erinnerten.
Das gemächliche Gleiten auf dem Fluss wird dabei scheinbar von den Kindern geleitet. „Little“ ist metonymisch für die Kinder zu lesen, die damit als Akteure in den Vordergrund treten. Ihre „vain pretence“ deutet auf das spielerische Vorgeben von Umständen hin, das Kinder so sehr lieben und das vor allem auch Alice liebt; schließlich lautet ihre „favourite phrase“ in Through the Looking-Glass „Let’s pretend.“ Dieses ‚pretend play’ bezieht sich aber auch darauf, dass sie bei der Bootsfahrt nur die scheinbaren, bei den „wanderings“ der Erzählung aber die wahren Führer sind—und genau diese Rolle nimmt Alice innerhalb der Erzählung ein: sie ist es, die den Leser durch ihre Abenteuer führt, und er wird mittels der Erzählung aufgefordert, ihr zu folgen.
Das so eingeführte Rollenspiel wird dann in der Ansprache der „cruel Three“ fortgesetzt: der Sprecher wird zur „poor voice,“ und er schafft es nicht, sich gegen das Betteln der ‚schrecklichen Drei’ um eine Geschichte durchzusetzen. Der Sprecher kokettiert hier mit dem Wunsch der Kinder nach einer Erzählung („tale“), d.h. auch er spielt, und es ist evident, dass er kaum etwas lieber tat, als während der Ausflüge oder auch beim Photographieren Geschichten zu erzählen.
So werden dann die Personen, deren „little skill,“ „little arms“ und „little hands“ bereits metonymisch eingeführt wurden, genauer vorgestellt:
Imperious Prima flashes forth
Her edict ‘to begin it’:
In gentle tones Secunda hopes
‘There will be nonsense in it!’
While Tertia interrupts the tale
Not more than once a minute.
Es sind Lorina (Prima, die Erstgeborene), Alice (Secunda) und Edith (Tertia), die Jüngste der drei Schwestern; die Änderung der Namen ist ein Hinweis auf die Verwandlung des biographischen Anlasses. Alle drei haben an der Geschichte, die nun folgt, teil und werden in dem Gedicht so verewigt: die Älteste möchte, dass die Erzählung nun endlich beginnt; die Jüngste unterbricht den Erzählvorgang regelmäßig, nicht aber häufiger als einmal in der Minute; wesentlich ist jedoch die Forderung von Alice nach Nonsens, auf den im Verlauf der Erzählung immer wieder verwiesen wird: entweder in Form von kommentierten Ausrufen oder aber wenn Alice sich über ihre eigenen Aussagen äußert. Das Spiel, etwa mit der Sprache, das sich in Nonsens ausdrückt, steht für Alice im Vordergrund.
Als die Erzählung auf dem Boot endlich beginnt, tritt sofort der gewünschte Effekt ein, und ihr wird volle Aufmerksamkeit geschenkt:
Anon, to sudden silence won,
In fancy they pursue
The dream-child moving through a land
Of wonders wild and new,
In friendly chat with bird or beast—
And half believe it true.
And ever, as the story drained
The wells of fancy dry,
And faintly strove that weary one
To put the subject by,
‘The rest next time—’ ‘It is next time!’
The happy voices cry.
Innerhalb ihrer Phantasie gelingt es den kindlichen Zuhörern, der Geschichte zu folgen: somit erhält das Traumkind tatsächlich die Funktion, „Our wanderings to guide.“ Die Bezeichnung „dream-child“ ist dabei mehrdeutig: Alice ist zum einen das Kind, das träumt, aber sie ist auch das Kind, das im Traum an jenem „golden afternoon“ existiert. Somit verschmelzen die „wanderings“ aus der ersten Strophe aufgrund ihrer Klanggleichheit mit den „wonders,“ denen das Kind begegnet: Die ‚wanderings’ […] identifizieren dank der Klanggleichheit von ‚wonder’ und ‚wander’ den Weg durchs Wunderland mit den Wundern selbst“. Die Wunder rufen ferner die Reaktion des Staunens hervor, „to wonder.“
Weil aber die ganze Welt ein Wunderland ist, staunt Alice andauernd, und ihr Staunen ist eng mit der Phantasie verknüpft. Deshalb wird in diesen beiden Strophen sowohl auf die „fancy“ der Zuhörer wie auch des Erzählers verwiesen, dessen Kreativität jedoch nachlässt: er wird „weary“ und versucht, seine Zuhörer auf das nächste Zusammentreffen zu vertrösten, allerdings ohne Erfolg. Auch hier siegt die ‚pretence’: die Mädchen behaupten einfach, sie befänden sich schon ‚im nächsten Mal,’ „it is next time!“ Nachdem die Geschichte einmal begonnen wurde, möchten die Zuhörerinnen wissen, wie sie endet; sie sind neugierig und wollen weiter über die seltsamen Abenteuer in der Erzählung staunen.
Die Fähigkeit zum Staunen ist dabei vor allem dem Kind zu Eigen; „der erwachsene Dichter [muss sie] entweder behalten oder wiedergewinnen“. Dies gelingt ihm mittels der Erzählung, und so trocknet deren Quelle auch nicht aus, sondern der Strom der Erzählung plätschert weiter wie der Fluss, auf dem die fröhliche Rudergesellschaft unterwegs ist:
Thus grew the tale of Wonderland:
Thus slowly, one by one,
Its quaint events were hammered out—
And now the tale is done,
And home we steer, a merry crew,
Beneath the setting sun.
Alice! A childish story take,
And with a gentle hand,
Lay it where Childhood’s dreams are twined
In Memory’s mystic band,
Like pilgrim’s wither’d wreath of flowers
Pluck’d in a far-off land.
Mit dem Ende der Geschichte endet auch der Tag; der erzählerische Schöpfungsvorgang wird jedoch vom Dichter rückblickend beobachtet, markiert mittels eines Übergangs zur Vergangenheitsform: „strove,“ „grew“ und „hammered.“
Die vorherige Verwendung der Präsensform diente der Vergegenwärtigung der Situation; wie die abschließende Strophe zeigt, soll die Geschichte insgesamt eine solche Funktion für die Adressatin des Sprechers, „Alice!“, haben. Er fordert sie auf, die Erzählung wie einen Blumenkranz aufzubewahren und in ihrer Erinnerung zu halten, in das Erinnerungsband einzuflechten; das „tale of wonderland“ wird ihr helfen, die verwelkten Blumen ihrer Erinnerung wieder aufblühen zu lassen und in das weit entfernte Land ihrer Kindheit, das „land of wonders,“ zurückzukehren, denn „[d]as Lebensalter mit dem besten Gedächtnis ist zugleich das vergeßlichste: das Kindesalter“. Die Niederschrift hat somit die Funktion, Vergangenheit und Zukunft miteinander zu verbinden: „Carroll, then, has surrounded the two stories of Alice’s adventures in a golden nostalgic haze—deliberately evoking the sense of the past in presenting them to his readers“.
Dass die Erzählung dabei mit einem „pilgrim’s wither’d wreath of flowers“ verglichen wird, kann als deutlicher Hinweis darauf gelesen werden, dass diese Rückkehr in die Welt des Kindes mittels der Erzählung einem Erlösungsweg des erwachsenen Lesers zurück in die Kindheit gleichkommen soll, trugen doch Pilger ins Heilige Land häufig einen Blumenkranz. Entscheidend ist vor allem die Wortwahl: sie verweist bereits an dieser Stelle im Rahmengedicht auf einen religiösen Kontext, der im 19. Jahrhundert geradezu zwingend auf theologische Debatten, Säkularisierungstendenzen und Bemühungen um eine Resakralisierung hindeutet. Carroll schreibt in seinem Rahmengedicht zu Alice’s Adventures in Wonderland eben nicht von etwa einem „tourist,“ sondern es ist von einem „pilgrim“ die Rede. Gleichermaßen wird das „mystic band“ erwähnt, das rein metrisch ebenso ein „secret” oder ein „magic band“ hätte sein können.
Die Leserin, Alice, der das Buch zunächst zugeeignet ist, wird zum Pilger als Kind; ihr wird das Wiedererleben kindlicher Abenteuer und des kindlichen Staunens, „wonder,“ ermöglicht, und ihr folgt jeder weitere Leser auf diesem Weg. Die Figur des Pilgers evoziert eine Verbindung mit den „wanderings“ aus der ersten Strophe: der Mensch bewegt sich auf seinem Lebensweg ständig von der Kindheit weg und damit von seiner „ursprünglichen Intaktheit“; die Erinnerung an den kindlichen Zustand kann ihn jedoch wieder „zu den Träumen kindlicher Glückseligkeit“ zurückführen. Darin wird aber gerade das Spannungsverhältnis zwischen den Rahmengedichten und der eigentlichen Erzählung von Alices Abenteuern sowohl im Wunderland wie auch später hinter dem Spiegel deutlich: sie erfährt dort keine „kindliche Glückseligkeit,“ sondern bewegt sich innerhalb einer Welt, die vom Spiel bestimmt ist und innerhalb derer sie Kind sein kann. Kinder jedoch sehnen sich nicht nach einer nostalgisch-verklärten Glückseligkeit — hier tritt die Erwachsenenperspektive in den Vordergrund. Alice ist das „dream-child,“ das Kind, das dazu bestimmt ist, den Leser durch die Geschichte und damit zu seinem Ursprung zurück zu führen.
Die Erzählung wird damit selbst zum Weg, der sich in den Bildern des Einleitungsgedichtes schon andeutet: „Imagery of oars, wandering, a journey, and a return home suggests a quest motif“, das aufgrund des Verweises auf die Erinnerung in der letzten Strophe noch verstärkt wird. Es ist jedoch keine Suche im Sinne der mittelalterlichen Quest, auf die Carroll hier anspielt; es handelt sich um eine Pilgerschaft, die zurück in die Kindheit, in eine Welt des Spiels führen soll: die Erzählung ist als Aufforderung an den erwachsenen Leser zu verstehen, eine Kinderwelt zu betreten. Während in den Rahmengedichten jedoch anklingt, dass es sich dabei um eine goldene Welt handelt, innerhalb welcher das Kind sich „in friendly chat“ mit den Wesen, denen es begegnet, bewegt, stellt der Leser im Verlauf der Erzählungen fest, dass es gerade nicht die Idealität ist, in die er von jenem „dream-child“ geführt, und die so häufig mit der Erinnerung an die Vergangenheit assoziiert wird.
Dieser Text ist mit einigen Änderungen dem ersten Kapitel der Dissertation entnommen: Zirker, Angelika. Der Pilger als Kind: Spiel, Sprache und Erlösung in Lewis Carrolls Alice-Büchern. Religion und Literatur, Band 2, Münster: LIT, 2010.
Carroll, Lewis. Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass and What Alice Found There. Ed. and intr. Roger Lancelyn Green; illustr. John Tenniel. Oxford: OUP, 1998.
Carroll, Lewis. The Complete Illustrated Lewis Carroll. Intr. Alexander Woollcott. Ware: Wordsworth Editions, 1998.
Carroll, Lewis. Lewis Carroll’s Diaries: the Private Journals of Charles Lutwidge Dodgson. Ed. Edward Wakeling. 10 vols. Luton: The Lewis Carroll Society, 1993-2007.
Černy, Lothar. „Autor-Intention und dichterische Fantasie: Lewis Carroll und Alice in Wonderland.“ Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 224.2 (1987): 286-303.
Černy, Lothar. Erinnerung bei Dickens. Amsterdam: Grüner, 1975.
Gardner, Martin (ed.). The Annotated Alice: The Definitive Edition. London: Penguin, 2000.
Kierkegaard, Søren. Entweder / Oder 1.1. Übers. Emanuel Hirsch. Gütersloh: Gerd Mohn, 1979.
Kierkegaard, Søren. Stadien auf dem Lebensweg: Studien von Verschiedenen. Gesammelt, zum Druck befördert und herausgegeben von Hilarius Buchbinder. 1845. Übers. Christoph Schrempf und Wolfgang Pfleiderer. Jena: Diederichs, 1922.
Madden, William A. „Framing the Alices.“ PMLA 101.3 (May 1986): 362-73.
Morton, Lionel. „Memory in the Alice Books.“ Nineteenth-Century Fiction 33.1 (Dec 1978): 285-308.
Rückert, Friedrich. Ausgewählte Werke. Hg. und Einl. Julius Kühn. Leipzig: Reclam, 1929.
Woolf, Virginia. „Lewis Carroll.“ Collected Essays. 4 vols. London: The Hogarth P, 1966. 1: 254-55.