Die Spielsteine des Lewis Carroll

The best book on programming
for the layman is 'Alice in Wonderland';
but that's because it's the best book
on anything for the layman.

Alan J. Perlis, Epigrams on Programming


Soviel ist aus einem der berühmtesten Kinderbücher des 19. Jahrhunderts noch bekannt: Alles beginnt mit einem weißen Kaninchen, das kurz nach seinem Erscheinen in einem Erdloch verschwindet. Ein Verwirrspiel mit den Grenzen zwischen Realität und Fiktion nimmt seinen Lauf. Hauptfigur Alice, die eben noch am Flussufer saß und träumte, folgt dem hektischen Hasen, der unentwegt auf seine Taschenuhr starrt und stürzt durch einen engen Schacht, hinein in einen Raum des Ungewissen. Ihr Fallen dauert eine halbe Ewigkeit und endet an einem Ort mit unscharfen Koordinaten. Im unterirdischen Korridor gibt es viele Türen und Alice findet den Schlüssel, der eine davon sperrt. Sie öffnet das winzige Tor und entdeckt einen zauberhaften Garten. Um ihn zu betreten, ist sie jedoch zu groß – bevor sie den Weg ins Freie findet, muss Alice erst schrumpfen.

Auf der anderen Seite des Spiegels gelten die Gesetzmäßigkeiten der physikalischen Realität nicht mehr: Mitten im Wunderland transformieren sich feste Umrisse und Konturen, auch Alice findet sich und ihren Körper fortwährend in veränderter Form wieder. Sie leert den Inhalt einer Flasche mit der Aufschrift „Drink Me!“ und wird mit einem Mal ganz klein. Dem offenen Spiel mit der Imagination, in das sie, halb wachend, halb träumend, hineingeraten ist, sind von nun an keine äußeren Grenzen mehr gesetzt. Am Hof der königlichen Majestät wird Alice feststellen müssen, dass der Krocket-Schläger in ihren Händen den Hals eines Flamingos trägt und die Kugeln, auf die sie zielt, eingerollte Igel sind. Die Tore am Spielfeld bewegen sich unentwegt hin und her und der Ausgang des Spiels bleibt bis zuletzt ungewiss. Erst der Befehl der Königin, eiserne Schiedsrichterin im Off, wird die unendliche Partie beenden. Sie unterteilt ihre Spieler:innen nicht in Sieger:innen und Verlierer:innen, stattdessen fordert sie die Dekapitation des gesamten Personals. Von Alice nach den Regeln ihres seltsamen Spiels befragt, antwortet die Königin nur mit einer sinnwidrigen Verkettung von mehrdeutigen Sätzen.


Spiele ohne Regeln, oder: Erziehungsnotstand im Reich der Krone

Krocket-Turniere im Wunderland kennen keine Siege und Niederlagen, sie erlauben keine distinkten Züge und folgen keinem linearen Ablauf von Ereignissen. Aus dem Unsinn erdacht, wandeln alle Spielfiguren am Abgrund des Absurden. An Interpretationsansätzen der surreal anmutenden Szenarien aus Lewis Carrolls 1865 erstmals erschienenem Buch „Alice in Wonderland“ i ermangelt es dennoch nicht: Mal wurde seine Erzählung als Parabel auf den Erziehungsnotstand des 19. Jahrhundert gedeutet, als Kritik an den Autoritätsfiguren im viktorianischen England und den hohlen Respektbekundungen, die man ihnen entgegenbrachte; fast ebenso oft wurden Alices’ Abenteuer jedoch auch als Geschichten über das Erwachsenwerden und die damit verbundenen Übergangsrituale interpretiert – konsequent aus Kinderperspektive erzählt, behauptet die Protagonistin sich immer wieder gegenüber den Bewohner:innen eines Wunderlands, die Prinzipientreue und Obrigkeitshörigkeit über allfällige Zweifel an den widersinnigen Gesetzmäßigkeiten ihrer Lebenswelt stellen. Auf Alice wirkt die neue Umgebung denkbar skurril und sie rüttelt mit jeder ihrer Fragen immer wieder an den Grundfesten.

Die entrückte Welt der menschlichen Spielkarten und unbarmherzigen Königinnen wird ebenso gerne herbeizitiert, wenn psychoanalytische Lehren dem Gegenstand ihrer Untersuchung ein Gesicht geben wollen. Lewis Carrolls Fiktionen firmieren dann als dankbare Kulissen für Entgleisungen aller Art – für den französischen Anti-Psychater Gilles Deleuze wurden die paradoxen Konstellationen im Buch zu Denkbildern für mentale Zustände, in denen Menschen nicht länger Herren und Frauen im eigenen Haus zu sein scheinen. In diesem Fall ist es nicht die Lust am Komischen, die hier lacht, nicht die Ungezwungenheit einer spielerischen Fiktion, der die Signatur eines spintisierenden „als ob“ vorauseilt. Gilles Deleuze zufolge sind die Prinzipien des Realitätsgebots in Carrolls Roman allein deshalb außer Kraft gesetzt, weil es eine Welt des Wahnsinns ist, die er präsentiert. Über Beschaffenheit und Personal derselben schreibt Gilles Deleuze in „Logik des Sinns“:

Man kann sich auch fragen, welche Art von Wahnsinn der Hutmacher, der Schnapphase und die Haselmaus klinisch repräsentieren. Und im Gegensatz zwischen Alice und Humpty Dumpty lassen sich stets die beiden Ambivalenzpole „zerstückelte Organe – organloser Körper“ erkennen, Sieb-Körper und glorreicher Körper. Aus keinem anderen Grund hat Artaud selbst sich mit dem Text Humpty Dumptys auseinandergesetzt.ii

Ob organlos oder nicht: Lewis Carrolls Buch gestattet allen, die nicht dauerhaft in der Welt des Wahnsinns zuhause sind, den ökonomischen Luxus eines spekulativen Spiels auf Zeit. Starre Strukturen und festgefahrene Annahmen über das, was ist, brechen während des Wandelns im Wunderland immer wieder auf, Zufallsorientierung und Handlungsfreiheit treten stundenweise an die Stelle von Nutzenmaximierung und Kalkül. Johan Huizinga zufolge hätten erstere Einstellungen zur frühen Herausbildung von sozialen Systemen geführt, demnach wären sämtliche Institutionen der Politik, der Wissenschaft, der Religion, des Rechts und des Sports aus spielerischen Interaktionsformen zwischen Menschen hervorgegangen.iii Norbert Elias, Platzhirsch am Fußballfeld und eifriger Leser des niederländischen Spieledenkers, hat Huizingas Theorie des spielenden Menschen rund ein halbes Jahrhundert später um ein essentielles Moment ergänzt: Unter Bedingungen ökonomischer Knappheit, so Elias, waren selbst die Spiele des homo ludens tödlich; zu Wettkämpfen unter Freunden wurden sie erst infolge des Fortschreitens eines bis heute unabgeschlossenen Zivilisationsprozesses.iv Im englischen Lehnstuhl hat ein Mathematik-Lehrer das kriegerische Potenzial des Agon in die reine Lust am Denken verwandelt. Sein Spiel der König:innen ist bis zuletzt durch die Prinzipien der klassischen Logik bestimmt.


Logische Lektionen: Klassenstruktur und Türhüter-Gleichnis

Carrolls zweibändige Alice-Erzählung ist nicht nur ein unterhaltsames Kinderbuch oder eine Fibel über die Traumlogik des Unbewussten. Charles Lutwidge Dodgson, der sie unter dem Namen Lewis Carroll veröffentlichte, hat eine bestimmte Art des Denkens darin so stark chiffriert, dass sie nur mehr über den Umweg der Fiktion zum Ausdruck kommen konnte. Bei genauem Hinsehen ist sein modernes Märchen kein reiner Raum der Kontingenz: Es ist kein Abkömmling von Sprachspielenv, seine Grundfesten bilden stattdessen logische Lektionen in literarisierter Form. Mehr als ein Vierteljahrhundert am Christ Church College in Oxford als Tutor für Mathematik tätig, organisierte Charles Lutwidge Dodgson von dort aus nicht nur Wunderland-Exkursionen, er schrieb auch Lehrbücher über Mathematik, Geometrie und Logik. Seine Einführungen in ausgewählte Fachgebiete waren stets von unkonventionellen Methoden begleitet, für die Lehre nahm Dodgson oft das gesamte Universitätsgebäude in Beschlag: Logische Klassen und Unterklassen pflegte er vorzugsweise in räumlicher Ausdehnung darzustellen – als geometrische Anordnungen, die Kafkas Türhüter-Gleichnis nahezu bieder erscheinen lassen.

Zwecks Erklärung von Logik-Klassen und den Hierarchiebeziehungen zwischen diesen platzierte Dodgson seine Schüler:innen vertikal im Raum. Während er selbst sich in der hintersten Ecke eines Zimmers im obersten Stockwerk befand, saßen Diener:innen an den Schwellen zu den einzelnen Etagen. Auf einen Unter-Diener folgte ein Unter-Unter-Diener und auf den Unter-Unter-Diener ein Unter-Unter-Unter-Diener; vom Garten des Gebäudes aus stellte ein:e Schüler:in eine Frage an letzteren und ihr Inhalt veränderte sich von Etage zu Etage. Was am Ende übrig blieb, schien schier entstellt: „Lehrer: was ist drei Mal vier? Diener: Was ist Bleiklavier? Unter-Diener: Wo ist mein Saphir? Unter-Unter-Diener: was ist dein Souvenir?“vi Dodgsons stille Post sorgte für diffuse Signale. Plastischer als durch Treppen und Stufen kann man Logik-Klassen wohl kaum erklären; die damit verknüpfte Vorstellung bleibt zudem komisch genug, um im Langzeitgedächtnis verankert zu werden.

Was sich in Carrolls Wunderland ereignet, wirkt so widersprüchlich wie die stoische Logik eines Ereignisses: Als künftiges ist es immer schon vergangen, über das noch nicht und doch schon des Geschehens lässt sich stets mehr und weniger zugleich sagen. Die dazugehörigen Bestimmungsstücke folgen einer infiniten Reihe an Prämissen, die der Szenerie stets vorauseilen – so wie die Schildkröte, die Achill nie überholen kann. Dodgson schlägt sich auf die Seite des Läufers und macht aus der antiken tortoise auf diese Weise ein Tier namens „Taught-Us“ – mitsamt einer Interpretation, die weit über Zenons Paradoxon hinausgeht. Anders als von Aristoteles angenommen, sind Achills Bewegungen für ihn nicht bloß hypothetisch; vielmehr handele es sich dabei um logische Aussagen, die allesamt wahr sind und infolgedessen auch zu einer logischen Konklusion führen müssten. Dodgsons Schnellläufer ist jedoch kein Achilles, sondern ein „A-Kill-Ease“ – und damit einer, der mitten im Wettlauf zum „Leichttöter“ wurde.vii


Domino-Effekte: Die Spielsteine des Lewis Carroll

Auf Gewinn ausgerichtete Spiele stellen in Aussicht, dass aus Tellerwäscher:innen Millionär:innen werden können – schließlich leben ihre Erfinder:innen von Versprechen dieser Art. Der Ausgleich ungleicher Verteilungen tritt am Ende dennoch nicht ein, der gerechte Tausch hat gesellschaftlichen Seltenheitswert. Bei Dodgsons Spielen hingegen kann gewinnen, wer mit variablen Größen zu rechnen weiß – als Spielfigur, die vorab mit nichts rechnet. Der Rätsel-Parcours in „Alice im Wunderland“ belehnt eine solche nicht nur mit einem gerüttelt Maß an Glück, er setzt auch voraus, dass sie sich mit der Logik und ihren Prämissen einlässt. Wer im Vorfeld zu viele Möglichkeiten annimmt und am Ende falsch schließt, hat in einem Wunderland wie diesem bereits verloren.

Dodgsons logische Objekte erschöpfen sich nicht in mathematisch formalisierbaren Darstellungen, sie können mitunter auch zu Kuchen einer gut bestückten Bäckerei werden. In „Das Spiel der Logik“viii von 1896, das ursprünglich als Logik-Einführung für Kinder gedacht war, begnügt sich der Autor nicht mit abstrakten Formalia, er serviert stattdessen Torten auf Papier. Eigentlich sind es Kuchen, die Dodgson im Schrank eines gezeichneten Quadrats verstecken möchte, anfangs ist es aber noch nicht vollständig. Erst später wird daraus ein Viereck, das ein weiteres Viereck in sich trägt – ganze acht Felder lassen sich in dieser geometrischen Form mit logischen Attributionen belegen. Im Rahmen des Spiels hat der/die Spieler:in dafür zwei unterschiedliche Steine: Ein grauer steht für ein leeres Feld und damit für die Abwesenheit eines Kuchens; ein roter Spielstein hingegen bezeichnet, dass sich an seiner Stelle etwas – und nicht etwa nichts – befindet.

Im Rahmen von Charles Lutwidge Dodgsons Spiel der Logik weist ein grauer Spielstein auf die Absenz eines Kuchens hin, sie zeigt sich zugleich jedoch auch als andersfarbige Präsenz. Wenig später werden die Felder des Spielbretts mit Nullen oder Einsen belegt – im Sinne von zahlenmäßigen Entsprechungen für wahr oder falsch.

Dodgsons „Kuchenschrank“ verfügt über die Achsen y, y’ und x, wobei x mit dem Attribut „neu“ und y mit dem Attribut „nett“ belegt ist. y’ stellt die Negation von y dar und steht somit für „nicht-nett“. Alle Kuchen, die sich auf der yx-Achse befinden, sind folglich neu und nett; jene, die Im Feld xy’ liegen, sind neu, aber nicht-nett. Anordnen lassen die Spielsteine des Lewis Carrolls sich auch in vertikaler Abfolge. Dann sind die auf diese Weise bezeichneten Kuchen nett (y), zugleich gibt es sich jedoch auch in neuer (x) oder nicht-neuer (x’) Form.

Übersetzt werden kann die Dualität von 1 (roter Spielstein) und 0 (grauer Spielstein) in die sprachlichen Begriffe „ein“ oder „einige“ sowie „kein“ oder „keine“ – diese Bezeichnungen bilden die Ausgangsbasis für die spätere Formulierung von logischen Syllogismen. Dodgson zufolge kann die Konklusion als allgemein bejahendes oder verneinendes Urteil – und damit universal – oder als partikulär bejahendes oder verneinendes Urteil – und damit in partikulärer Form – existieren:

Eine Proposition, die aussagt, dass einige der Dinge, die ihrem Subjekt zugehören, so-oder-so sind, wird ,partikulär’ genannt. Zum Beispiel „Einige neue Kuchen sind nett“, „Einige neue Kuchen sind nicht-nett.“

Eine Proposition, die aussagt, dass keine oder alle diejenigen Dinge, die ihrem Subjekt zugehören, so-oder-so sind, wird ,universell’ genannt. Zum Beispiel: „Kein neuer Kuchen ist nett“, „Alle neuen Kuchen sind nicht-nett“.ix

Der von Dodgson verhandelte Syllogismus – im Sinne eines logischen Schlusses als Konsequenz aus zwei Propositionen – ist die Kombination aus einem Obersatz und einem Untersatz. Die Schlussfolgerung aus beiden Aussagen führt zu einer Konklusion. Gemeint ist damit eine logische Formulierung, bei der einem syllogistischen Subjekt (S) ein syllogistisches Prädikat (P) zu- oder abgesprochen wird. Einem syllogistischen Subjekt kann nicht nur ein einziges, sondern mehrere Attribute zu- oder abgesprochen werden. Dies kann zu semantisch sinnwidrigen und zugleich höchst konzisen logischen Aussagen führen.

An anderer Stelle zieht Dodgson ein zweidimensionales kartesisches Koordinatensystem um vier parallel zueinander verlaufende Linien, auf diese Weise entsteht ein Quadrat. Es wird zu einem Spielfeld mit vier Quadranten, sie stehen für die Attribute „nett“ und „neu“ – mitsamt ihres Gegenteils. Einige Seiten später kommt zu dieser geometrischen Formation ein drittes Attribut hinzu, bezeichnet durch den Buchstaben m. Er steht für die Eigenschaft „bekömmlich“ oder – in seiner Negation m´ – für „nicht-bekömmlich“. Der Syllogismus „kein neuer Kuchen ist bekömmlich“ ließe sich dann nicht nur so wie in Abbildung 4, sondern auch so wie in Abbildung 5 darstellen.


Die ganze Bäckerei: Krause Mengen und andere Unschärferelationen

Nicht immer waren die Kuchen aus Dodgsons Bäckerei nett und neu – oft waren sie nicht einmal bekömmlich. In Reaktion auf fundamentale Veränderungen im mathematischen System des 19. Jahrhunderts begann Lewis Carroll sich nicht länger mit einem Schrank voller Kuchen zufriedenzugeben, er forderte stattdessen die ganze Bäckerei. Von seinen kulinarischen Versuchen, die Prämissen der nicht länger nur im klassisch aristotelischen Sinn aufzufassenden Logik mithilfe von Kuchen zu veranschaulichen, zeigte sich die britische Mathematikerin Melanie Bayley bis zuletzt gänzlich unbeeindruckt. In ihrem Artikel „Algebra in Wonderland“x, der im März 2010 in der New York Times erschien, wird Alices’ Begegnung mit einer Raupe, die auf einem Pilz sitzt und eine Wasserpfeife raucht, zum Ausdruck von Carrolls Revolte gegen ein rein symbolisches System der Algebra. Ein solches hatte Augustus De Morgan zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorgeschlagen und innerhalb desselben wäre es auch zulässig, die Quadratwurzel aus einer negativen Zahl zu ziehen – sofern dieses Verfahren ausreichend begründet ist und einer inhärenten Logik folgt.

Von derart kühnen Vorhaben am Terrain der Mathematik war Charles Lutwidge Dodgsons sichtlich überfordert – seine Angst vor unkontrollierbaren Umwälzungen im Reich des reinen Formalismus führte zu jenen spontanen Größenveränderungen, denen nicht nur seine Hauptfigur Alice unterworfen ist. Mit ihr wächst und schrumpft auch ihr Erfinder, der sich von den rapiden Veränderungen seiner Zeit fürchtet. An einem einzigen Tag unterschiedliche Größen zu haben, wirkt nicht nur auf die Romangestalt Alice befremdlich; Charles Lutwidge Dodgson teilte mit ihr die Angst davor, demnächst aus der Zeit zu fallen. „Manchmal ist die Konklusion, die uns angeboten wird, nicht identisch mit der richtigen Konklusion und trotzdem kann sie nicht als gänzlich ,trügerisch’ bezeichnet werden. Wann passiert das? Und welche Bezeichnung können wir einer solchen Konklusion geben?“xi Fragen wie diese tauchen in „Das Spiel der Logik“ immer wieder auf, sie verweisen auf das tiefer liegende Paradox der logischen Trugschlüsse. Die Reflexion darüber wurde mit dem Erscheinen maßgeblicher Arbeiten von George Boole und Gottlob Frege von einer Frage der Philosophie zu einer der Mathematik. Ein Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende näherte sich ein amerikanischer Logiker einem weiteren, schwarzen Loch der Logik: Die von Bart Kosko begründete Fuzzy-Logic beschäftigt sich mit Mengen, sie sich in Relation zum Abstand zweier Punkte im n-dimensionalen Raum immer wieder verändern.

Fuzzy-Mengen teilen stets eine bestimmte Grundmenge miteinander, jedes ihrer Elemente gehört jedoch in unterschiedlichem Maße dazu.xii Die Vereinigungsmenge von A und B ist folglich keine absolute, sondern eine relative Größe, ausgedrückt in der Fuzzy-Menge M (½ / ½). Sie taucht inmitten eines geometrischen Objekts auf, das Hyperkubus heißt. Anders als ein normaler Kubus verfügt ein solcher nicht über drei Dimensionen, er ist stattdessen n-dimensional. Will man Teilmengen einer Menge in einem Hyperkubus platzieren, dann erhält jede der Ursprungsmengen eine weitere Dimension. Die Extrempunkte dieses geometrischen Körpers geben die leere Menge (0) und die vollständig erfüllte Menge (1) wieder, dazwischen sind die unterschiedlichen Teilmengen zu finden.

Eigentlich müsste man Fuzzy-Mengen misstrauen. Man müsste annehmen, dass es sich dabei – ganz im Sinne Charles Lutwidge Dodgsons – um trügerische Konklusionen handelte und den Versuch einer formal distinkten Bestimmung unter veränderten Vorzeichen erneut unternehmen. Genau dies hat der polnische Logiker Jan Łukasiewicz in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts getan und damit die Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit der klassischen Logik bewiesen.xiii Währenddessen formalisierte er jedoch auch die dreiwertige Logik Ł3 und damit den ersten mehrwertigen, nichtklassischen logischen Kalkül. Im Fall desselben entspricht der dritte Wert einem Teilwiderspruch – und damit der Teilmenge ½: Eine halbvolle Flasche (½) ist eben immer auch halb leer (½).


Unbewusste Apparate: Automaten-Logiken und weitere Wunderländer

Obwohl sie nur als Simulationsmodelle im Computer existieren, zeitigen Fuzzy-Mengen in der Praxis höchst brauchbare Wirkungenxiv. Damit entbinden sie uns von der unendlichen Aufgabe, Lewis Carrolls Wunderländer realiter nachbauen zu müssen. Computer sind fuzzier, in ihnen ist die zweiwertige Logik des Identisch-Seins den dynamischen Größen des Anders-Werdens längst gewichen. Die Reise durch ein Land mit unscharfen Mengen ist somit keine Metapher mehr für ein Ich, das erst zu sich kommen muss und Lewis Carrolls Alice kein schizophrenes Mädchen mit Wachstumsproblemenxv, das im Wunderland um ihre psychische Integrität ringt. Nicht Alice ist es, die die Türen zu ihrem Traumleben sperrangelweit aufgerissen hat, es sind andere Fenster zur Welt, die hinter den Bildschirmen wirken – als Bausteine für ein logisch strukturiertes Erzählprogramm, gestrickt nach den Mustern eines algorithmisch gesteuerten Apparats.

Automat ist, was nach einer endlichen Anzahl an auszuführenden Anweisungen im Endzustand terminiertxvi – diese informationstheoretische Minimaldefinition trifft offenbar nicht nur auf nicht-deterministische Turing-Maschinen zu, sondern auch auf Romane. In beiden Fällen steht das Wort Automat für einen Typ Maschine, die Abläufe selbsttätig ausführen kann. Mit dem, was in und durch sie wirkt, tritt Technik als solche in den Hintergrund. Damit leistet sie einen Beitrag zu jener Wiederverzauberung von Welt, die im stahlharten Gehäuse bürokratischer und politischer Hörigkeit sukzessive zu erstarren droht. Währenddessen bleibt der „Geist“ in unseren Apparaten unsichtbar. Alan J. Perlis hat ihn wie folgt beschrieben:

Jedes Computerprogramm ist ein im Geist skizziertes Modell eines realen oder mentalen Prozesses. Diese Prozesse, die mit menschlicher Erfahrung und menschlichem Denken entstehen, sind groß an der Zahl, schwierig im Detail und stets nur zum Teil verstandesmäßig erfaßt. Die Modellbildung durch unsere Programme stellt uns selten auf Dauer zufrieden. So werden unsere Programm ständig weiterentwickelt, obwohl sie sorgfältig erarbeitete abstrakte Symbolsammlungen sind, Mosaiken von ineinandergreifenden Funktionen: Wir ändern sie, wenn unsere Erkenntnis des Modells sich vertieft, erweitert, verallgemeinert, bis das Modell schließlich einen metastabilen Platz innerhalb wieder eines anderen Modells erhält, mit dem wir uns dann auseinandersetzen. […] Wenn die Kunst unsere Träume darstellt, dann führt der Computer sie aus, in Programme verkleidet. xvii

In einer von Smartphones und iClouds dominierten Gegenwart versprechen die Gaben des Prometheus stets mehr als ihre Apparate einlösen können. Noch bevor sie zu Zauberwürfeln im Gehäuse der „Großen Industrie“ (Marx) wurden, beschäftigten die Pionier:innen des Programmierens sich mit den Detailabläufen im Getriebe. Harold Abelson und Gerald Sussman haben sich dabei noch auf den Lisp-Dialekt „Scheme“ bezogen, unter einer Programmiersprache verstanden sie nicht nur eine formalisierbare Anweisung zur Ausführung von mathematischen Operationen, sondern auch ein „neuartiges Medium […], um Vorstellungen über Verfahrensweisen auszudrücken“ xviii. Es zu beschwören, müsse jeder Zauberlehrling erst erlernenxix; auf seinem/ihrem Weg dorthin durchschreitet er/sie ein anfangs noch unzugängliches Wunderland.

Zauberei, Magie, Nonsense, Sprachspiel oder Abgrund des Absurden? Mit „Alice in Wonderland“ hat sich der Mathematiker Charles Lutwidge Dodgson einst einen Reim auf die moderne Mathematik gemacht. Wenn ein Hutmacher, ein Hase und eine Haselmaus sich dieser Tage zum Tee träfen, stünden vermutlich andere Rätselfragen im Raum. Das t im Teehaus wäre nicht einfach nur ein mathematisches Symbol für Zeit, sondern auch eine Systemvariable im quelloffenen Betriebssystem Linux. „time_t“ meint dort keine Einladung zur Tee-Party, sondern eine unter C und C++ implementierte Integer-Variable. Als Antwort auf ihre Abfrage erhält man eine Nummer, die derzeit rund zehn Stellen umfasst. Sie beinhaltet die Anzahl der seit Beginn der Unix-Epoche am 1. Januar 1970 vergangenen Sekunden. Über eine Zeitenwende dieser Art hätte Carrolls Alice sich vermutlich ebenso sehr gewundert wie ihr Erfinder – mit den Mitteln der Poesie hat letzterer die im t-Haus diskutierten Rätsel gerade noch zu fassen versucht.

Im Moment ihres Verschwindens kann eine Katze nicht geköpft werden. Die Königin aus Lewis Carrolls Wunderland hält dennoch bis zum bitteren Ende an diesem Vorhaben fest – im Grinsen der Cheshire Cat vermutet sie bis zuletzt noch deren geheime Präsenz. Mit unsichtbaren Raubtieren und weißen Hasen hat sich in der Zwischenzeit auch die Populärkultur angefreundet – „Follow the White Rabbit“ ist eine Aufforderung, die sich auch am Bildschirm des „Matrix“-Helden Neo wiederfand; seinen Weg zur Wahrheit haben Larry – sie heißt heute Lana – und Andy Wachowski in Gestalt einer dreiteiligen Verfilmung kurz vor der Jahrtausendwende auf die Leinwand gebracht. Vielleicht hätte Lewis Carroll seine Logik-Lehre heute in Form eines Filmes fortgesetzt; seine Sprachspiele haben den heiligen Ernst von Ludwig Wittensteins logischen Untersuchungen bereits im Medium Buch vollends hinter sich gelassen.

Nicht immer kamen Carrolls Botschaften an – sie teilen bis heute das Schicksal eines Briefes, der in Kapitel 6 von „Alice in Wonderland“ von einem Lakaien-Fisch an einen Lakaien-Frosch weitergereicht wird. Im Moment der Übergabe verändert sich auch die Reihenfolge der aufgeschriebenen Wörter. Die Dokumentation der Python-Library „Beautiful Soup“xx rekurriert nicht ohne Grund auf dieses Bild – mit ihrer Hilfe lassen sich HTML- und XML-Dateien mühelos extrahieren, die Programmierer:innen aller Länder bis heute unendlich viel Arbeit machen; was am Ende davon übrig bleibt, ist kein reiner Nonsense – nur sinnloser Sprachsalat.

Von Barbara Eder | Lizenz CC-BY-SA-4.0 / Freie Verbreitung unter der Voraussetzung der Namensnennung der Autorin

i Vgl. Carroll, Lewis (1973): Alice im Wunderland, übersetzt von Christian Enzensberger, Frankfurt/M.

ii Deleuze, Gilles (2017): Logik des Sinns. Aesthetica, Frankfurt/M., S. 122.

iii Vgl. Huizinga, Johan (2009): Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, herausgegeben von Andreas Flitner, Reinbek bei Hamburg.

iv Vgl. Goudsblom, Johan (1981): „Zum Hintergrund der Zivilisationstheorie von Norbert Elias: ihr Verhältnis zu Huizinga, Weber und Freud“, in: Schulte, Werner (Hg.): Soziologie in der Gesellschaft: Referate aus den Veranstaltungen der Sektionen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Bremen, S. 768-772.

v Ludwig Wittgenstein hat die im „Tractatus“ noch verschmähten Sprachspiele erst in seinen philosophischen Untersuchungen rehabilitiert. Im Spiel mit den Worten meinte er dort ein Mittel „im Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes“ entdeckt zu haben – und wird im selben Augeblick zum Häretiker: „Du mußt bedenken, dass das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie unser Leben.“ (Wittgenstein, Ludwig (1984): „Über Gewißheit“, in: ders: Über Gewißheit. Zettel. Vermischte Schriften (= Werkausgabe Band 8), Frankfurt/M., § 559.

vi Carroll, Lewis (1994): Briefe an kleine Mädchen, hrsg. von Klaus Reichert, Frankfurt/M., zit. nach: Good, Paul (1998): Logik – Ein Spiel, Nachwort in: Carroll, Lewis (1998): Das Spiel der Logik, Köln S. 103-119, hier: S. 110.

vii Good, Logik – Ein Spiel, S. 106f.

viii Carroll, Lewis (1998): Das Spiel der Logik, Köln. Im englischen Original: Carroll, Lewis (1887): The Game of Logic, London; New York, Faksimile online unter https://archive.org/details/gameoflogic00carruoft/page/24/mode/2up [letzter Abruf: 29.7.2023].

ix Ebd., S. 60.

x Bayley, Melanie (2010): Algebra in Wonderland, in: New York Times vom 6. März 2010, WK11 (New York-Edition, PRINT), online unter https://www.nytimes.com/2010/03/07/opinion/07bayley.html?searchResultPosition=2 [letzter Abruf: 29.7.2023].

xi Carroll, Lewis (1998): Das Spiel der Logik, Köln, S. 43.

xii Christoph Drösser beschreibt die Fuzzy-Menge in distinkter Abgrenzung von der Cantor’schen Mengenlehre: „Je näher zwei Mengen bei einander liegen, desto ,gleicher’ sind sie. In der klassischen Mengenlehre sind zwei Mengen natürlich nur dann gleich, wenn sie genau dieselben Elemente haben. In die Fuzzy-Mengenlehre übertragen, würde dies bedeuten, dass zwei Fuzzy-Mengen nur dann gleich sind, wenn sie für jedes Element exakt denselben Zugehörigkeitswert haben. Aber Begriffe wie ,groß’ kann man mit verschiedenen Fuzzy-Funktionen ausdrücken, die alle dieselbe Qualität beschreiben. Deshalb ist es sinnvoll, ein Fuzzy-Maß dafür zu entwickeln, wie ,gleich’ zwei Mengen sind. Und weil das Wort ,gleich’ so absolut klingt, sprechen wir lieber von ,Ähnlichkeit’.“ (Drösser, Christoph (1994): Fuzzy Logic. Methodische Einführung in krauses Denken. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, S. 119).

xiii Vgl. Łukasiewicz, Jan (1930): „Philosophische Bemerkungen zu mehrwertigen Systemen des Aussagekalküls“, in: Comptes Rendus des Séances de la Société des Sciences et des Lettres de Varsovie, Classe 3. Band 23, S. 51–77.

xiv Als besonders brauchbar erwiesen haben sich Fuzzy-Mengen etwa in der Steuerungs- und Regelungstechnik sowie in der Logistik: Mit diesen kann man etwa dem Steuerungsproblem bei Pendelbewegungen einer Ladung beikommen.

xv In „Logik des Sinns“ favorisiert Gilles Deleuze diese Lesart, die vermeintlichen Wachstumsprobleme – und damit das passagenweise Kleinbleiben von Alice – ließe indes andere Ursachen als die im Buch auffindbaren vermuten. Lewis Carroll soll sexuelle Anziehung gegenüber Menschen im vorpubertären Alter verspürt haben, zeitlebens habe er diese aber angeblich nur in sublimierter Form ausgelebt. Er besaß eine große Sammlung an Photos von jungen Frauen und Männern, die sich am Übergang zum Erwachsenenalter befanden. Zu den Fotografien aus Carrolls Sammlung vgl. Wetzel, Michael (1990): The Latter Undraped. Die Entblößung des Blicks bei Lewis Carroll. In: Hörisch, Jochen und Michael Wetzel (Hg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920, München.

xvi In diesem Zusammenhang ist folgende Definition verbindlich: Hat ein Algorithmus an mindestens einer Stelle zwei oder mehr Möglichkeiten der Fortsetzung, von denen nur eine ausgewählt werden kann, dann heißt er nicht-deterministisch; enthält er hingegen elementare Anweisungen, deren Ergebnis durch einen Zufallsmechanismus beeinflusst werden, dann wir er nicht-deterministisch genannt, vgl. Hopcroft, John E./Rajeev Motwani/Jeffrey D. Ullman (2007): Introduction to Automata Theory, Languages, and Computations, Massachusetts, S. 37-85.

xvii Alan J. Perlis: Geleitwort, in: Abelson, Harold/Gerald Jay Sussman/Julie Sussman (1993): Struktur und Interpretation von Computerprogrammen, Berlin; Heidelberg, S. xi-xv, hier: xi f.

xviii Abelson, Harold/Gerald Jay Sussman/Julie Sussman (1993): Struktur und Interpretation von Computerprogrammen, Berlin; Heidelberg, S. Xvii, im Original: Abelson, Harold / Gerald Jay Sussman / Julie Sussman (1996): Structure and Interpretation of Computer Programs (second edition). Foreword by Alan J. Perlis, Cambridge; London; New York; St. Louis; San Francisco; Montreal; Toronto, im HTML-Format online unter

https://web.archive.org/web/20180103184259/https://mitpress.mit.edu/sicp/full-text/book/book.html, als Textbuch unter https://archive.org/details/structureinterpr00abel (erste Auflage), sowie https://archive.org/details/pdfy-x0q2Q4K6h-gsWbes (zweite Auflage) [letzter Abruf: 2.8.2023].

xix Über das dazugehörige Handwerk heißt es im Grundlagenwerk Struktur und Interpretation von Computerprogrammen, dem bis heute der Ruf einer „Hacker-Bibel“ vorauseilt: „Ein Rechenprozeß hat tatsächlich mit den Geistern des Zauberers sehr viel gemeinsam. Man kann ihn nicht sehen und nicht anfassen. Er besteht überhaupt nicht aus Materie. Dennoch ist er sehr real. Er kann intellektuell arbeiten. Er kann Fragen beantworten. Er kann die reale Welt beeinflussen, indem er in einer Bank Geld auszahlt oder in einer Fabrik einen Roboterarm steuert. Die Programme, die wir verwenden, um Prozesse zu beschwören, sind wie Zaubersprüche. Sie sind sorgfältig zusammengesetzt aus symbolischen Ausdrücken in geheimnisvollen und esoterischen Programmiersprachen, die die Aufgaben vorschreiben, die unsere Prozesse ausführen sollen.“ (Vgl. ebd., S. 1)

xx Zur Online-Dokumentation der Python-Library „Beautiful Soup“: https://beautiful-soup-4.readthedocs.io/en/latest/ [letzter Abruf: 29.7.2023].