Die Sarabande - Dramaturgische Überlegungen
1. Bild und Erinnerung
Nachdem der kroatische Baron Juranic, an der Front in den Türkenkriegen der höfischen Gesellschaft entwöhnt, vom venezianischen Grafen Collalto beim Tanzen blamiert wird, erringt er sein Ansehen im Fechtkampf zurück. Collalto wird nun mit eigenen Waffen geschlagen - er hat den Baron auf dem glatten Parkett der Gesellschaft zum Sturz gebracht, nun wird ihm der Degen an die Brust gesetzt. Doch während es zuvor um Prestige und Anerkennung ging, geht es jetzt um Leben und Tod: „Mit Fechten hat der Herr sein Leben an mich verspielt, mit Tanzen kann er es von mir zurückgewinnen“, so der beleidigte Baron. Gesellschaftspflicht gegen Naturrecht, gleichermassen unbarmherzig.
Bei Perutz taucht das Motiv des Duells immer wieder auf. Es eignet sich als Bild einer verhärteten Gesellschaft, der Bereitschaft und Mittel fehlen, die Eskalation eines Konfliktes zu verhindern. Denn ein Duell bringt den Konflikt auf die einfachste Formel, die möglich ist: Er oder ich, Tod oder Leben. Gewalt erzeugt Gewalt und zwar in exponential ansteigendem Ausmass - in Collaltos und Juranics Gesellschaft gibt es daraus kein Entrinnen. Die Grauwerte des Lebens wie Einsicht, Geduld, Toleranz, Veränderung oder Barmherzigkeit werden als Schwäche beiseite geschoben. Mit mathematischer Präzision ergibt sich eine Folge von Reaktionen, jede jeweils schärfer und aufgebrachte als die vorhergehende: eine Lawine der Unbarmherzigkeit, die Gewaltspirale.
Das Ecce Homo des Rabbi Löw ist ein echter deus ex machina, es unterbricht eine stabile Kette der Rache. Doch unterbricht es die Gewaltspirale nicht etwa mit Visionen zu einer besseren Welt oder einem besseren Menschen, sondern es unterbricht sie mit dem Bild einer noch grösseren Gewalt, einer Überdosis Gewalt.
Perutz schrieb „Die Sarabande“ im Mai 1943 in Tel Aviv unter dem Eindruck des Holocaust, der als Eskalation einer verrohten Gesellschaft in seiner Unerträglichkeit ein gesellschaftliches Innehalten und Umdenken bewirken sollte. Das jüdische Ecce Homo hatte das christliche abgelöst. Das Bild, das „der hohe Rabbi Loew durch seine zauberische Kraft aus Mondschein und Moder, aus Ruß und Regen, aus Moos und Mörtel“ entstehen liess, ist flüchtig. Der Eindruck, den es in Collalto und Juranic zurücklässt, ist dauerhaft.
Perutz schrieb über eine private Lesung der „Todes-Sarabande“, wie der ursprüngliche Titel der Novelle lautete: „...ich hätte diese Geschichte vor 20 Jahren schreiben sollen. Ich sagte, damals wäre das unmöglich gewesen, das persönliche Erlebnis hätte gefehlt.“
„In mir ist eine Schraube locker geworden oder eine Feder gebrochen, die Schraube oder Feder, die sieben Jahre (1938-1945 ) lang meine Spannkraft, meinen Optimismus, mein Vertrauen in die Zukunft aufrecht und in Gang erhielt, die mich Nacht für Nacht am Radio auf Nachrichten, gute und böse, mit unbeirrbarer Zuversicht horchen ließ.“
Das Duell ist ein Zweikampf nach festen Regeln, so wie auch der höfische Tanz am Ball des Fürsten Lobkowitz eine ritualisierte Begegnung ist, in der persönliche und individuelle Entscheidungen keinen Platz haben. Nicht von ungefähr lässt Perutz aus einem Tanz einen Kampf entstehen und aus dem Kampf wieder einen Tanz. Bei allen Unterschieden lässt sich die Verwandtschaft zwischen Kampf und Tanz in unzähligen Spielarten des Kampftanzes oder aggressiv anmutenden Tänzen erkennen - man denke nur zum Beispiel an den Schuhplattler des Alpenraumes.
„Bevor Du einem Mann ein Schwert gibst, lass ihn das Tanzen lernen!" - keltisches Sprichwort.
2. Norm, Naturrecht und Menschlichkeit
Jede Gesellschaft definiert sich auch über ihre Grenzen. Welche Regeln dort gelten, wo eine Gesellschaft sich verteidigt, wo ihre geschlossenen Regelkreise aufbrechen und absurdum geführt werden, zeigt ihre verdrängte Seite bzw ihren wahren Charakter. Der ständige brutale Türkenkrieg im Osten war eine Grundbedingung des Habsburger Reiches und Europa zu Zeiten Rudolfs II. Von dieser Front lässt Perutz einen Soldaten in die Mitte des Reiches kommen, wo die adelige Gesellschaft sich selbst feiert und vom Krieg nichts wissen will. Hier, wo der venezianische Graf Collalto das Parkett beherrscht, zählt die neueste Mode, der elegante Tanzschritt und stilsicheres Benehmen, dort, wo Juranic, der kroatische Baron, herkommt, zählt Töten und Überleben. Wer von den Rändern einer Zivilisation kommt, hat für die minutiösen Verfeinerungen im Innern kein Sensorium mehr. Kein Wunder, dass es zur Konfrontation kommt, es sind zwei konvergente Seiten einer Gesellschaft - ihre sichere Mitte und der unsichere Rand - zwischen denen es zu grossem Gefälle und grossen Spannungen kommt. Auch heute konfrontieren sich Gesellschaften nur ungern mit dem Gesicht, das sie in Kriegen nach aussen zeigen.
Perutz zeigt, wie unbarmherzig es aber in beiden Welten zugeht. Beide Männer werden mit einer Welt konfrontiert, in der sie fremd sind. Erst wird der unzivilisierte Baron Juranic, der gutgelaunt auf den Ball kommt, mit den Waffen der Gesellschaft attackiert wird: er wird lächerlich gemacht und verachtet aus der Mitte des gesellschaftlichen Vergnügens ausgestossen. Daraufhin wird der elegante Collalto im Duell mit dem Naturrecht des Stärkeren an seine Grenze geführt, wo die Zivilisation, in der er sich so souverän bewegen kann, mit einem Mal endet. Er begreift es, wenn Juranic ihm den Degen an die Brust setzt und keine Gnade kennen will.
Er soll sich - das ist der boshafte Humor des Barons - zu Tode tanzen.
Die Gelegenheiten zur Gnade - die Heiligenbilder, an denen sie vorbeikommen, rühren zwar seine Diener, nicht aber den Baron - lässt Juranic aus, Gnade ist in seiner Welt Schwäche.
Rabbi Löw, der diesen Todestanz unterbricht, konfrontiert nun die beiden Männer mit einem Ecce homo-Motiv, das eine Figur zeigt, die überall fremd ist: der Verfolgte, der nirgends Platz hat, der ausgestossen wird, weil er weder dazugehört noch stark ist. Doch die Leidensfigur, die Rabbi Löw auf eine Mauer zaubert, ist kein Bild, sondern ist stärker als alle christlichen Standbilder, weil er für Baron Juranic unerwartet erscheint. Die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes, das wie er selbst gedemütigt und wie Collalto tödlich bedroht ist, übertrifft alles. Diese Geschichte schrieb Perutz, während rund um ihn die Welt des Judentums in Scherben geschlagen wurde, das jüdische Ecce homo hat das christliche abgelöst.