Der lange Weg zur Freiheit
Ein berühmtes, dem griechischen Philosophen Aristoteles zugeschriebenes, Zitat lautet:
Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave.
Sicherheit bedeutet demnach Unterordnung, Eingliederung in Strukturen und das Akzeptieren einer Autorität, die mächtiger ist als das eigene Selbst.
Die Suche oder viel mehr die Forderung nach Freiheit ist die zentrale Triebfeder der Charaktere in Kristine Tornquists Libretto, das das Leben des einst berühmtesten Gefangenen Russlands, Michail Chodorkowski, unter einem neuen künstlerischen Blickwinkel beleuchtet.
Von zentraler Bedeutung ist dabei die Charakterentwicklung Michail Chodorkowskis und die Frage, wie aus einem jungen aufstrebenden Mann, der nur danach trachtet, sich zu beweisen und für den das Jonglieren mit Macht und Geld anfangs nicht mehr als ein Spiel ist, eine Persönlichkeit wird, die Reichtum und Sicherheit willentlich riskiert, um Freiheit zu erlangen.
Zu Beginn ist Chodorkowski ein junger Mann innerhalb einer Gruppe, der während der Umbruchsjahre nach dem Zerfall der Sowjetunion scheinbar nur mit Glück, Wagemut und den richtigen Kontakten der wirtschaftliche und soziale Aufstieg gelingt. Im Kreis seiner Freunde singt Chodorkowski euphorisch
Unser Kompass ist der Profit, unser Idol ist das Kapital, unser Ziel die Milliarde.
Die mahnenden Worte seiner geliebten Mutter, die die Sorg- und Gedankenlosigkeit ihres Sohnes beunruhigt, verhallen ungehört. Er fühlt sich stark und unangreifbar, wähnt sich im Recht. Denn wo es keine Gesetze gibt, kann man auch gegen keine verstoßen. Der junge Chodorkowski übernimmt keine moralische Verantwortung für seine Taten, da sie ihm nicht ausdrücklich von einer höher stehenden Instanz verboten werden. Er verdrängt sein Gewissen und lebt in einem Rausch, in dem die Rubelscheine vom Himmel fallen und seine Tasche immer voller wird.
Doch er verachtet die Behörden und sieht seinen wirtschaftlichen Aufstieg als Beweis seiner intellektuellen Überlegenheit. Indem Chodorkowski jedoch Nutzen aus den politischen Verhältnissen zieht und damit vor allem sein eigenes Eigentum vermehrt, legitimiert er ein System, das er eigentlich ablehnen möchte. Erst langsam erkennt er die Verantwortung, die er für seine Taten trägt und für seine Arbeiter, die, wie am Beispiel von Iwan und seiner Frau Natascha, am Existenzminimum leben müssen.
Und dennoch bleibt Chodorkowski ein Gefangener seines Strebens nach Anerkennung und Erfolg. Der beste Student, der größte Bankier, der erfolgreichste Unternehmer, nach ganz oben will Chodorkowski noch mehr Erfolg haben. Dort wähnt er die große Freiheit. Doch dann überschätzt er seine Macht und erhält mit Putin einen allzu mächtigen Gegenspieler. Chodorkowski und seine Firma geraten ins Visier von Behörden und Steuerfahndern. Chodorkowskis Mitstreiter verlassen das Land, retten sich und ihren Besitz ins Ausland. Doch für Chodorkowski steht diese Möglichkeit nicht zur Debatte. Das Exil würde ein Beugen vor einer Autorität bedeuten, deren Macht Chodorkowski nicht mehr anerkennen will und ein Verleugnen seiner eigenen persönlichen Freiheit.
Newslin: Ich liebe vor allem die Freiheit.
Chodorkowski: Ich auch. Aber wenn erst einmal Gitter aufgerichtet sind, ist auf beiden Seiten des Gitters Unfreiheit.
Dennoch braucht es noch einer weiteren Begegnung bis Chodorkowski den letzten Schritt geht und sein altes Leben gänzlich abstreift. Noch in der Haft beruft sich Chodorkowski auf das Fehlen festgeschriebener Gesetze, die sein Handeln als Unrecht verurteilen würden. Noch immer flieht er vor den letzten eigenen Konsequenzen, der Auseinandersetzung mit seinem Gewissen und den persönlichen Moralvorstellungen. Erst sein Mithäftling Iwan Iwanowitsch schafft es, ihm die Augen zu öffnen und ihm den Mut zu verleihen, seinem eigenen Gesetz treu zu bleiben.
Man muss selbst wissen, was recht und richtig ist, auch wenn der Staat und seine Knechte es nicht wissen.
Die Freiheit die Chodorkowski schlussendlich erringt, ist die stärkste Bejahung seiner Persönlichkeit, indem er mit bewusster moralischer Entscheidung seinen eigenen Weg wählt.
Ich bin keineswegs ein idealer Mensch, aber ich bin ein Mensch der Ideen. Wie jedem fällt es mir schwer, im Gefängnis zu leben, und ich will nicht darin sterben. Aber wenn es sein muss, werde ich nicht schwanken. Meine Überzeugung ist mir mein Leben wert. Ich glaube, das bewiesen zu haben. [1]
[1] Michail Chodorkowski, Schlussplädoyer vom 2. November 2012, in: Briefe aus dem Gefängnis, München 2011, S.21
Jung, Carl Gustav: Wirklichkeit der Seele, Zürich/ Stuttgart 1969
Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt am Main 1966
Popper, Karl R: Alles Leben ist Problemlösen, Wien 1994
Chodorkowski, Michail / Geworkjan, Natalija: Mein Weg. Ein politisches Bekenntnis, München 2012