Geld und Macht
Ein russisches Sprichwort fasst es in ein einfaches Bild: Man kann nicht sauberes Wasser aus einem Brunnen schöpfen, in den man selbst jahrelang hineingespuckt hat. Die Willkür von politisch instrumentalisierter Justiz, die Chodorkowski zehn Jahre hinter Gitter brachte, war dieselbe wie jene, die ihm zuvor zu seinem unglaublichen Glücksritt nach oben verholfen hatte, und die er auch mitfinanziert hatte in der allgemeinen Korruption. Schon während der letzten sowjetischen Jahre war die na levo genannte Schattenwirtschaft eine notwendige Überlebenspraxis in einem maroden System.
Doch im postsowjetischen Chaos war die Freiheit, hinzuspucken, wo man möchte, fast grenzenlos. Juristen verzweifelten daran, dass alte Gesetze keine Grundlage mehr hatten, die neuen unklar und widersprüchlich formuliert waren und viele neue Erscheinungen noch gar nicht gesetzlich geregelt waren, denn es gab nie eine umfassende Justizreform, sondern nur eine schrittweise Anpassung an die neuen Bedingungen, die Männer wie Chodorkowski vereint mit Politikern wie Jelzin schufen. Die dünne Kruste des Systems war schnell eingebrochen. Aber der Sumpf, in dem bald alle miteinander badeten, ist nicht so leicht trockengelegt.
Es war die Zeit Fortunas. Fortuna war die Herrscherin. Und diese Fortuna darf man sich nicht liebreizend vorstellen, sondern wie ein Raubtier.
In dieser juristischen Freiheit der Wende gründete der Chemiestudent und Komsomolzist Michail Borissowitsch Chodorkowski aus der ersten Freiheit heraus, die dem Komsomol gewährt wurden, erst die Bank Menatep und ersteigerte mit dem damit angehäuften Kapital 1995 unter Beihilfe der Jelzin-Regierung den staatlichen Mineralölkonzern JUKOS - um einen weit unter dem internationalen Wert liegenden Preis, jedoch in einer Art „rechtsfreiem Raum“ und gesichert nur durch Duldung der Politik. Chodorkowski und seine Partner erwiesen sich als erfolgreiche Sanierer des maroden Unternehmens, sie entledigten sich alter Strukturen und Abhängigkeiten und brachten internationales Knowhow ein, so dass der Konzern sehr bald enorme Gewinnsteigerungen einbrachte. Zwischen den frischgeschlüpften Oligarchen und der Politik gab es Stillhalteabkommen. Ihre guten Geschäfte sollten solange unbehelligt bleiben, solange sie sich weder in die Politik anders als durch stattliche finanzielle Unterstützung einmischten noch sich der Einmischung der Politik widersetzten. Chodorkowski, einer der reichsten und erfolgreichsten der Oligarchen, verstiess bereits in der ersten Legislaturperiode Putins gegen die Regeln.
Um internationale Aktionäre zu akquirieren, machte Chodorkowski den Ölkonzern JUKOS nach westlichem Vorbild transparent und begann, ihn in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln, was den Einfluss der Politik auf den Export der Bodenschätze reduzierte. Die zunehmende Deckelung seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten durch die Politik war wohl der erste Anstoss, in die politische Sphäre einzudringen, sicher aber auch Unzufriedenheit mit dem in Korruption erstarrtem System - weit entfernt von einem Freien Markt nach amerikanischem Vorbild. Er plante er eine eigene Pipeline nach China, um sich von den staatlichen Strukturen und dem Vergabesystem korrupter Beamter wie Igor Setschin unabhängig zu machen. Er knüpfte Kontakt zur amerikanischen Politik. Er unterstützte intensiv mehrere, auch linke Parteien, um die politische Landschaft zu beleben, investierte in Bildung und Öffentlichkeit. Nicht ohne Hintergedanken gründete er seine Stiftung „Offenes Russland“ - das sich zu gegebener Zeit in eine Partei verwandeln können sollte. Und schliesslich kritisierte er vor laufenden Kameras die Korruption der inzwischen zur Einheitspartei mutierten „Einiges Russland“. Damit forderte er Putin, der versuchte, den Einfluss der Oligarchen zu beschneiden, auch persönlich heraus. Chodorkowski ignorierte alle Warnungen. 2003 wurde er verhaftet, die Justiz stand offensichtlich unter politischer Direktive. Einige Oligarchen setzten sich daraufhin mit ihrem obszönen Reichtum ins Exil ab, einige - wie Beresowski - kamen unter mysteriösen Umständen ums Leben, andere arrangierten sich mit Putin und der gehobenen Beamtenschaft.
Chodorkowski hat nach seiner Freilassung betont, dass er durch persönliche Order Putins im Gefängnis geschützt war, wenn auch nicht privilegiert. Über die Gründe, warum Putin Chodorkowski im Dezember 2013 überraschend freiliess, kann nur spekuliert werden. Westlichen Beobachtern erscheint der Versuch, vor den umstrittenen Olympiafestspielen in Sotschi einen lästigen Klotz am Bein loszuwerden, am plausibelsten. Sicher hat Chodorkowski dazu ein Stillhalteabkommen treffen müssen, das er inzwischen jedoch bereits gebrochen hat - erst in der Ukraine, später auch durch Kommentare und Aktivitäten in russischer Innenpolitik. Deshalb wohl steht auch sein Name auf der sogenannten „Todesliste“ des russischen Handlangers und Putin verpflichteten tschetschenischen Präsident Ramsan Kadyrow. Wenige Tage nach seiner Freilassung wurden alte Untersuchungen und Anklagen gegen ihn wieder aufgenommen, so dass eine Rückkehr nach Russland für Chodorkowski unmöglich und persönliche politische Aktivitäten in Russland derzeit ausgeschlossen sind.
Chodorkowski hatte sein Exil in der Schweiz eingerichtet, wo seine Familie bereits während seiner Inhaftierung lebte und wo die vor der Verhaftung ins Ausland gerettete Vermögenswerte liegen, ein vergleichsweise kleiner Teil. Ebenfalls freigelassen wurde sein enger Partner und Freund Platon Lebedew. Leonid Borissowitsch Newslin, bei JUKOS vor allem für Regierungskontakte und PR zuständig, hingegen flüchtete nach der Inhaftierung von Lebedew und Pitschugin, JUKOS-Sicherheitsmitarbeiters, nach Israel. Von dort aus verwaltet er den Grossteil des ehemaligen Vermögens von Chodorkowski und dessen juristische und mediale Betreuung. In Abwesenheit wurde er wegen Mordes am Bürgermeister Petuchow und einiger Attentate im Umfeld von JUKOS verurteilt. Israel, das ihn als Opfer eines Schauprozesses einstuft, lieferte ihn nicht aus. Böse Zungen sagen Newslin deshalb nach, dass die lange Inhaftierung Chodorkowskis in seinem Interesse gelegen wäre.
Auch wenn sich der Aufstieg und der Sturz Chodorkowskis aus westlicher Sicht kaum zu einem vollständigen Bild zusammenfassen lassen, lässt sich darin ein echtes Königsdrama erahnen. Denn hier standen nicht nur zwei mächtige Männer einander gegenüber, sondern auch die zwei Machtprinzipien, die sie vertraten – die Macht der Politik und die Macht des Geldes.
Jelzin und Putin stehen im Erbe des Sowjetregimes für die absolute politische Macht, die kaum von einer unabhängigen Öffentlichkeit und Justiz oder einfach durch Wahlen kontrolliert und korrigiert werden kann, weil sie alles selbst unter Kontrolle hat. Jelzins Politik war immer national - waren doch die Staatsbetriebe deshalb unter ihrem Wert verschenkt worden, damit sie unter russischer Kontrolle blieben - und Putins Interessen zunehmend ebenso.
Dem hielt Chodorkowski die Macht des Geldes entgegen. Der neoliberale Kapitalismus, den er und seine Kollegen im Eiltempo und mit ungebremstem jugendlichen Elan aus dem Boden stampften, braucht andere Strukturen. Er sucht Internationalität, muss nach internationalem Wirtschaftsrecht und -gesetzmässigkeiten agieren, muss sich aber auch um sein Image sorgen. Selbst wenn Chodorkowski damals sicher nicht der Idealist war, für den ihn heute manche halten, musste ihm an einer modernen russischen Gesellschaft gelegen sein, in der die Politik auf die Wirtschaft keinen direkteren Einfluss ausüben kann als über Steuererhebungen.
Diese russischen Situation steht diametral entgegengesetzt der westlichen, wo die Finanzkonstrukte, die Konzerne und Banken längst die Politik vor sich herjagen. Als etwa George W. Bush 2003 in einer Brandrede Putin mahnte, Chodorkowski einen fairen Prozess zu machen und ihn freizugeben, sprach er vermutlich weniger als oberster Sheriff westlicher Ideale, sondern vor allem im Namen der amerikanischen Ölfirmen, mit denen Chodorkowski bereits eine Fusion verhandelt hatte und denen er selbst verbunden war. Dennoch gibt auch zu denken, wie leicht die amerikanische Politik Chodorkowski fallen liess, ja, vielleicht sogar verraten hatte.
Wladimir Wladimirowitsch Putin, ein gebürtiger St. Petersburger, blieb auch nach der Wende der KGB-Welt verhaftet. Er wurde vom todkranken und auch politisch angeschlagenen Jelzin als russischer Präsident installiert und hält diese Funktion seither fest, wenn er auch aus Verfassungsgründen eine Legislaturperiode lang mit seinem schwachen Vertrauten Medwedew Posten tauschte. Obwohl er sich nach der Wende als antikommunistisch empfahl und in seiner ersten Legislaturperiode viele Reformen anstiess, die in Russland allumfassende Korruption bekämpfte und die Gesellschaft in Richtung westlicher Vorstellungen öffnete, steht er - selbst enttäuscht vom Westen - heute doch zunehmend für Bewahrung „sowjetischer“ Strukturen und für hermetische Macht. Er fürchtete den Einfluss und die politischen Ambitionen der Oligarchen. Er fürchtet nun auch den transparenten Staat und die vielzitierte Zivilgesellschaft, die jene staatliche Schattenwirtschaft unter den ihn stützenden Beamten stören würde und damit seine präsidiale Macht mindern. Sein politisches Überleben hängt heute davon ab, wie er die beiden Machtblöcke – den liberalen und den konservativen - in der Duma in Balance halten kann.
Putin inszeniert sich gerne als harter, autoritärer Macho - unzählbar die Bilder sportlicher oder militärischer Aktivität, die er von den Medien unters Volk bringen lässt. Sein Vermögen – vorwiegend in Aktien russischer Staatsbetriebe - wird von der westlichen Presse auf 40 bis 200 Milliarden Dollar geschätzt. Selbst streitet er diese Zahlen ab, wie auch Chodorkowski lebt er persönlich verhältnismässig bescheiden, nicht zuletzt, weil Oligarchen beim russischen Volk äusserst unbeliebt sind.
Weniger heimlich kann die diskret im Halbdunkel agierende Beamtenschaft der Regierung ihr Vermögen sammeln. Igor Iwanowitsch Setschin, ein Vertrauter Putins aus St. Petersburg, Vizepremier für Energiefragen, Vorstand des „Öl-Clubs“ und Präsident des Ölkonzerns Rosneft hatte wie Putin Verbindungen zum KGB. Er gehört dem erstarkenden autoritären, polizeinahen Machtblock - den Falken - im Kreml an.
Als Vorstandsvorsitzender des rückverstaatlichten Ölkonzerns Rosneft war auch er an der Zerschlagung von JUKOS interessiert, zumal Chodorkowskis Attacke vor allem auf ihn selbst zielte. Denn Setschin hatte über seine politischen Funktionen und die staatliche Pipelinefirma Transneft, die den gesamten Export des russischen Erdöls abwickelt, die Ölmagnaten in der Hand. JUKOS wurde nach seiner Zerschlagung Setschins Rosneft eingegliedert. Damit wurde er einer der mächtigsten Männer Russlands.
Gegenspieler Medwedew versuchte zwar mit juristischen Argumenten zu verhindern, dass Setschin als Seketär der Energiekommision Weisungsrecht gegenüber der Regierung habe und damit den gesamten Energiesektor kontrolliere. Doch als Putin den Grosskonzern Rosneft zum „Aktiv“ erklärte, war Rosneft den Weisungen der Regierung entzogen. Und der liberale Flügel der Duma hatte einen weiteren Rückschlag erhalten.
Setschin tauschte sämtliche Manager des Konzerns durch eigene Leute aus. Er, der sich in der Vergangenheit gegen eine Privatisierung von Rosneft gestemmt hatte, führte sie nun selbst zu eigenen Gunsten durch. Die von Chodorkowski angedachte strategische Partnerschaft mit Exxon zog er durch und kaufte ausserdem Itera, einen Gaskonzern, um auf diesem Weg Gazprom Konkurrenz zu machen. Sein Privatvermögen ist unbekannt, so wie er stets versucht, im Hintergrund zu bleiben - er wird die Graue Eminenz (gerne auch "Darth Vader") genannt. In letzter Zeit scheint sich Putin aber von Setschin zunehmend distanziert zu haben.
Nach dem "Oligarchensturz", der nur ein Oligarchenwechsel war, ist Roman Arkadjewitsch Abramowitsch einer der reichsten, er geniesst zugleich ein Leben im Ausland und beste Beziehungen zur russischen Führung. Im Gegensatz zu Chodorkowski wurde er immer dem Ruf eines hedonistischen Kapitalisten gerecht, nicht zuletzt, weil er sich medienwirksam die grösste Jacht der Welt und einen englischen Fussballclub gekauft hatte. Jelzins Entscheidung, Putin zu seinem Nachfolger zu küren, wird auf Abramowitschs Einfluss zurückgeführt, seine Beziehungen zu Putin und dessen Umfeld sind nicht zuletzt deshalb eng und vertraulich.
Bezüglich seiner Rolle im Fall Chodorkowskis gibt es unterschiedliche Interpretationen. Sein unerwarteter Vorschlag einer Fusion seines Ölkonzerns Sibneft und von JUKOS eine Woche, nachdem Chodorkowski bei Putin in Ungnade gefallen war, brachte schliesslich den Stein ins Rollen. Jene 300 Millionen, die Chodorkowski Abramowitsch im Zuge der Fusionsvorbereitungen auszahlte, verschwanden nach der Zerschlagung von JUKOS, bald darauf verkaufte Abramowitsch seine Anteile an Sibneft. Es scheint aber, als habe Abramowitsch Hoffnungen gehabt, zumindestens einen Teil von JUKOS zu erben. 2000-2008 war Abramowitsch Gouverneur und genoss in der Zeit politische Immunität, die ihm auch half, als der Oligarch Beresowski gegen ihn klagte, er habe ihn beim Verkauf von Sibneft betrogen. Bis heute macht Abramowitsch im Umfeld von staatlichen Aufträgen Geschäfte, zuletzt bei den Bauvorhaben rund um den Winterspielort Sotschi.
Die Verzahnung von Geld und Macht ist nichts Neues. Nichts Neues auch die Kriminalität derer, die die Gesetze erlassen. Nichts Neues die kaum zu beherrschende Seuche der Korruption. Vor allem nach einer Revolution in der grossen Freiheit schlägt die Gunst der Stunde immer den Glückrittern Fortunas. Ob feudal, kommunistisch oder plutokratisch, in Fortunas Reich ist jeder selbst seines Glückes oder Unglückes Schmied.
Ich schrieb das Libretto 2013. Michail Borissowitsch sass noch im Gefängnis und es war nicht abzusehen, ob er es jemals lebend wieder verlassen würde. Ich verfolgte seinen Briefwechsel mit Ljudmila Ulitzkaja und seine anderen Schriften aus der Haft und war einerseits beeindruckt vom höflichen und vorsichtigen Ton der Briefe, andererseits spürte ich, dass hier ein starker Mensch mit dem Gewicht eines sehr erfolgreichen 40jährigen Lebens dennoch ernsthaft und voller Neugier ein für ihn gedankliches Neuland betrat. Jede Zeit erteilt ihre Lektionen. Zu bewundern sind aber die, die ihre Schlüsse daraus ziehen können, die unverdrossen bereit sind, zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Michail Borissowitsch Chodorkowski scheint ein solcher Mensch zu sein.
Jede Zeit erteilt ihre Lektionen, nicht nur dem einzelnen Menschen. Auf eine Revolution folgt nie eine Demokratie. Zu wild und grob sind die Kräfte, die da wirken, für etwas so Diffiziles. In Europa wird von Russland immer Demokratie gefordert. Doch müssten die Europäer aus eigener Erfahrung wissen, welch langsamen, mühsamen Prozess das Ausbalancieren einer Demokratie erfordert, die ihrem Ideal nahekommt: der schwierige und endlose Prozess des hin und her Taumelns, der Schmerzen und Fehler, des Einlenkens und Nachgebens - des aus der Geschichte Lernens.