Oper in Wien, 24.05.2015, Dominik Troger
Dass Gilgamesch, Herrscher von Uruk, in seinem zeitlosen Mythenleben einmal in der ehemaligen Ankerbrotfabrik in Wien Favoriten vorbeischauen würde, hätte er sich sicher nicht gedacht. Die ehemalige Expedithalle steht seit einigen Jahren für Produktionen der Wiener Theaterszene zur Verfügung, das umliegende Areal wurde von der Stadt Wien revitalisiert. Ein paar Lofts sind noch zu haben.
Mit der U1 ist die Halle relativ gut zu erreichen. Am Reumannplatz in die Linie 6 Richtung Simmering wechseln und bei der zweiten Station aussteigen; dann keine fünf Minuten leicht bergan. Flottere Geher schaffen die Strecke vom Reumannplatz in rund zehn Minuten, langsamere in einer Viertelstunde. Bei so wechselhaftem Frühlingswetter wie derzeit, sollte man sich aber ein paar Schichten anziehen: Die Halle ist nicht beheizt. Und wer schon zum Vortrag – Beginn jeweils um 19.30h – anreist, wird rund drei Stunden in der Halle verbringen müssen. Die Aufführung beginnt erst nach 20.30h mit Einbruch der Dunkelheit und endet (inklusive Applaus) gegen halb Elf. Nachdem Frau und Mann sich während der Vorstellung schwer durch aufwärmende Turnübungen ein wenig Abhilfe gegen die einkriechende Kühle verschaffen können, sollten selbige also auf eine entsprechend wärmeisolierende Kleidung achten. Es gibt ein Buffet mit warmem Kaffee. Vor der Vorstellung empfiehlt sich ein Rundgang durch die kleine Ausstellung von Guckkästen mit künstlerisch gestaltetem Innenleben, Details dazu verrät das Programmheft (dankenswerter Weise mit Libretto, obwohl eine Übertitelungsanlage mitläuft).
In der Ausstellung findet sich auch ein Musikautomat „Der mechanische Trompeter“ – das Remake einer Erfindung von Johann Nepomuk Mälzel aus den Jahren 1807-1808. Der Automat bläst die Fanfare zum Aufführungsbeginn. An jedem der sechs Vorstellungsabende gibt es eine Eröffnungsrede, die von unterschiedlichen Gästen gehalten wird. Vor der dritten Aufführung (die hier besprochen wird) trat der evangelische Theologe Klaus Eulenberger an, um dem durchaus zahlreich erschienenen Publikum (die Tribüne war gut gefüllt), den Sintflutmythos des Gilgamesch-Epos und des Alten Testamentes näher zu bringen. Das Gilgamesch-Epos ist bekanntlich der ältere Text von beiden.
Den Text zu diesem „Epischen Oratorium“ (so die Bezeichnung im Libretto) hat Kristine Tornquist verfasst, die auch gleich die Regie besorgte. Für die Musik sorgte René Clemencic, Komponist, Dirigent, Flötist, Ensemble-Gründer und vieles mehr – einer der großen „alten Männer“ der österreichischen „Klassikszene“. Die Handlung erzählt im Wesentlichen die Handlung des Epos, vom arroganten und hybrisgefährdeten Herrscher von seiner Freundschaft mit Enkidu, vom siegreichen Kampf gegen Humbaba im Zedernwald. Als Gilgamesch die Liebe Ischtars, der mesopotamischen Venus ablehnt, schickt sie aus Rache den Himmelstier, den die beiden besiegen. Aber die Götter strafen Enkidu mit Fieber und er stirbt. Vor dem Tode Enkidus zerbrechen die Allmachtphantasien des Gilgamesch. Er beginnt zu zweifeln, er sucht nach dem ewigen Leben. Er findet Utanapischti, den die Götter mit Unsterblichkeit gesegnet haben, weil er die große Flut überlebt hat. Gilgamesch muss erfahren, dass er selbst nicht unsterblich werden kann, sondern dass seine Pflicht und Bestimmung darin liegt, sich um sein Volk zu kümmern. Nachdem ihm noch eine Schlange das kostbare Verjüngungskraut weggefressen hat, dass ihm Utanapischti geschenkt hat, kommt Gilgamesch dieser Bestimmung endlich nach und wird ein maßvoller, gerechter Herrscher.
Was dieses Musiktheaterstück (und als solches darf ein „episches Oratorium“ wohl bezeichnet werden, um den Begriff „Oper“ zu vermeiden) in Summe auszeichnet, ist die klare Konzeption, die fast ein wenig den Charakter eines „allgemeinmenschlichen Lehrstücks“ annimmt (wobei der Begriff des Lehrstücks hier etwas weiter aufgefasst werden soll). Die wichtigen Stationen im Leben von Gilgamesch ziehen an einem vorüber wie in einem verknappten Entwicklungsroman und am Schluss kommt die Moral: Sichert sich Gilgamesch durch seine herrschende Fürsorge doch eine gute Nachrede, die ihn relativ unsterblich macht. Tornquist hält die Sprache einfach, bewahrt aber den formalen Charakter der mythischen Erzählung u.a. durch die Beibehaltung der typischen Wiederholungen zum Spannungsaufbau, etwa wenn – als ein Beispiel von vielen – die Doppelstunden eine nach der anderen gezählt werden, die Gilgamesch durch die Finsternis zu Utanapischti reist.
René Clemencic hat mit seiner Musik diesen Zug ins „Einfache“ aufgegriffen. Das kleine Orchester besteht aus drei Gruppen zu fünf Musikern, von denen eine aus Streichern, eine aus Blechbläsern und eine aus Schlagwerkern besteht. Die Musik ist eher illustrativ, mit leicht fasslichen Motiven – etwa ein typisches Streichertremolo, dass Furcht oder Angst oder Todesnähe symbolisiert und das auch schon am Beginn anklingt, oder das minimalistischen Klängen abgelauschte „Gilgamesch-Motiv“, mit dem sich der Fürst in den ersten Szenen mehrmals als ganz Ich-besessener Herrscher vorstellt. Die Figur des Gilgamesch ist mit einem Countertenor besetzt – eine interessante Parallelität zum Philip Glass'schen „Akhnaten“ in der grundlegenden Herangehensweise an die moderne „Veroperung“ einer „mythischen Figur“ (wobei Echnaton natürlich historisch eine greifbare Persönlichkeit darstellt). Enkidu ist eine lyrische Tenorpartie mit leicht heldischen Anwandlungen; Ischtar natürlich ein Sopran, den Clemencic ein wenig exaltiert in die Höhe treibt.
Ein leichter Hang zum Eklektizismus ist nicht zu überhören. Clemencic betont in einem Artikel im Programmheft, dass es ihm nicht darum gegangen sei ein „Opus“ zu schaffen, sondern um die Beziehung von Klängen und Klanggesten zu den Weltstrukturen des Mythos und zum inneren und äußeren Erleben der Figuren. Die Musik erhält dadurch – wie angedeutet – einen stark narrativen, situationsbezogenen Charakter, der den Lehrstückcharakter dieses „epischen Oratoriums“ unterstreicht. (Auch für Zahlensymboliker, lässt dieser kurze Beitrag vermuten, gibt es in dieser Gilgamesch-Komposition einiges zu entdecken.)
Die drei „Fünfer-Blöcke“ des Orchesters haben eine gewisse Tendenz, selbstständig zu agieren, um dabei sogar ein bißchen Humor zu zeigen – etwa wenn plötzlich das typische tubagestützte „Gehabe“ festzeltlicher Blasmusik durchschlägt, wenn laut Libretto Enkidu sieben Krüge Bier trinkt. Meist bleibt die Behandlung der Singstimmen rezitativisch, was der Textverständlichkeit gut tut. Ein kleiner, aus Solisten gebildeter Chor, der die Handlung begleitet, erzählt wie die Geschichte weitergeht. Kampfszenen locken die Schlagzeugbatterie lautstark aus der Reserve. Der lange Lauf zu Humdaba wird von Cello und Kontrabass treffend rhythmisch untermalt, und das Blech kann es auch majestätisch und saftig angehen. Enkidus Tod und die Klage des Gilgamesch um den verstorben Freund tragen den Charakter eines Requiems in sich, eine einfache absteigende Tonfolge, die sich motivisch wiederholt und die mit den einfallenden Bläsern eine Art von „klassizistischer Tragik“ erzeugt. Diese Szene zählte zu den eindrucksvollsten und berührendsten Momenten des Abends.
Kristine Tornquist hat die Aufführung mit einem Schattenspiel angereichert, das mit Motiven ostasiatischer Herkunft die Aura des Fremden ebenso einfing, wie die der „Verfremdung“. Das Orchester war aus Blickrichtung auf die Bühne links platziert, es folgte eine Art Gestühl für den kleinen Chor, dann die eigentliche Spielfläche mit dem Schattenspiel dahinter, dann ein Turm als Wohnsitz der Götter. Die Kostüme waren historisierend, und betonten dadurch zugleich die mythische, um nicht zu sagen „sakrale“ Distanz des Stoffes, wodurch der überzeitlichen Wert des Inhalts erhalten blieb.
Die Akustik in der Halle ist nicht optimal, eine relative Nähe von Publikum und Ausführenden unabdingbar – das wurde in der Konzeption der Spielfläche auch weitestgehend umgesetzt. Als Gilgamesch überzeugte der Countertenor Nicholas Spanos, die Stimme mit einem angenehmen, süßen Soprantouch, aber durchaus sehnig genug, um als Herrscher durchzugehen. Die schon angesprochene Akustik hat Spanos allerdings nicht begünstigt.
Gernot Heinrich sang einen präsenten Enkidu, während Lisa Rombach die Exaltismen der Ischtar schon ein wenig zum Forcieren nötigten. Dirigent François-Pierre Descamps am Pult des Roten Orchesters wurde am Beginn von einer „Schattenhand“ zur Partitur geleitet, die hinter dem Vorhang versteckt lag – ein humorvoller Einstieg. Wie immer gebührt allen Beteiligten die größte Wertschätzung – noch dazu in Zeiten immer kärglicher sprudelnder finanzieller Quellen, die es zunehmend schwerer machen, solche freien Theaterprojekte überhaupt noch auf die Beine zu stellen.
Das Publikum war von der empfehlenswerten Aufführung angetan und applaudierte am Schluss kräftig und rund fünf Minuten lang.
Weitere Aufführungen gibt es am 27., 28., und 29. Mai.
PS: „Gilgamesch" markiert den Start einer „Helden"-Trilogie, die im Herbst über „Sisifos" mit „Chodorkowski" unsere aktuelle Gegenwart erreichen wird. Mehr dazu auf der Homepage des sirene Operntheaters.