Text und Musik

Frühen sumerischen  Aufzeichnungen zufolge wurden die Epen dem Herrscher vorgesungen, während er mit seinen Beratern und Freunden zu Tisch sass und Bier trank. René Clemencic setzte deshalb bei seiner Vertonung des Epos auf den Gesang. 16 Protagonisten besingen die Kämpfe und Leiden und die Reisen des Helden ans Ende der Welt, begleitet von einem sehr ungewöhnlich besetzten Kammerorchester von fünf Streichern, fünf Blechbläsern und sage und schreibe fünf Schlagwerkern. Als Spezialist auch für Alte Musik weiss Clemencic dabei genau, was die menschliche Stimme kann: erzählen.

Das Libretto von Kristine Tornquist verbindet eine texttreue Bearbeitung des immer noch nicht vollständig vorliegenden Epos' in Ergänzung durch andere sumerische bzw akkadische Mythen und Texte. Und - als einzigen Eingriff in das sonst original belassene Material - den abstrakten Begriff der Zeit, den die mesopotamischen Völker nicht kannten. „Zeit“ ist der Refrain der Götter, „Zeit“ ist das Begehren Gilgameschs. In der Inszenierung werden die modernen Götter - als Spiegelbilder der Zuschauer, als Chor der Erinnernden - die alte Geschichte kommentieren und sie gestalten. Ob sie nun aus einem Schnürboden die Fäden der Geschichte ziehen oder ob sie selbst in die Kostüme der erinnerten Figuren schlüpfen, um Ereignisse nachzustellen, vermittelt doch klar: die Götter, die Überlebenden, sind wir selbst, denn unsterblich wird Gilgamesch nur in unserer Erinnerung, in der er auch im 21. Jahrhundert immer noch lebendig ist.

René Clemencic, vor allem bekannt als Pionier der Alten Musik, hat in seinen eigenen Bühnenkompositionen und Oratorien oft auf antike Stoffe - zum Teil auch in Originalsprachen wie Hebräisch oder Altgriechisch - zurückgegriffen und eine eigene musikalische Sprache dafür entwickelt, die der Unantastbarkeit und Wörtlichkeit der Texte viel Raum gibt und dennoch ganz eine eigene Tonsprache verfolgt.

GILGAMESCH, das wahrscheinlich älteste Epos der Welt, ist für mich die ewige Geschichte des ICH. Des ICH, das im illusionären Zeitstrom zunächst seine maß- und schrankenlose Hybris auslebt, bis es durch die bestürzende Begegnung mit dem DU zu sich und zur Welt kommt. Der nun erlebbare TOD macht ZEIT als Begrenzung spürbar. Die daraus resultierende ANGST treibt hinein in die hoffnungslose Suche nach UNSTERBLICHKEIT. Die jetzt in Demut erkennbare Weltstruktur führt zu einem, in der Dauer begrenzten, im tätigen Wollen aber unbegrenzten LEBEN.

Wie bei meinen anderen Kompositionen wollte ich auch bei der Vertonung des GILGAMESCH im Wesentlichen nichts wirklich Neues schaffen, sondern nur bereits irgendwie Vorhandenes hörbar machen.

So ist in diesem Werk Melodisches weitgehend durch Tonbuchstaben des Textes, Rhythmisches durch Zahlensymbolik bestimmt. Auch das Instrumentarium ist zahlensymbolisch geprägt. Es gliedert sich in drei Fünfergruppen: 5 Streicher, 5 Bläser, 5 Schlagzeuger. Bei Plato ist Fünf die Zeugungszahl. Hervorbringen, Zeugen wird als Herausfünfen bezeichnet.

René Clemencic

Daniel Ender: Wie begrenzen Sie die Möglichkeiten für Ihr eigenes Komponieren? Im Mai wird Ihre Oper „Gilgamesch“ uraufgeführt. Woraus schöpfen Sie Ihr Material?

René Clemencic: Ich hoffe, dass ich meinen eigenen Stil habe. Aber ich weiß gar nicht, wo meine Inspiration herkommt, sie kommt einfach. Ich bin einerseits dem Mittelalter und der Kabbala sehr verbunden, andererseits fließt Aussereuropäisches ein – alles kommt hier zusammen.

Partitur