Der Mythos I
Die Legende schreibt dem mykenischen Bronzezeitfürsten Sisyphos die Gründung der Stadt Korinth unter dem Namen Ephyra, auch der dort stattfindenden berühmten Isthmischen Spiele zu. Vermutlich fand das um um 1400 vor Chr. statt, doch vom Mythos wird er als Sohn des von den Göttern als Beherrscher Thessaliens eingesetzen Stammvaters Aiolos und als Ahnherr einer antiken Herrscherdynastie inthronisiert - als einen vom Himmel ausgezeichneten Fürsten, der den Göttern im goldenen zeitlosen Zeitalter auf Augenhöhe begegnen konnte. Pindar nennt ihn “listig und trickreich wie einen Gott”, Homer erwähnt ihn in der Ilias als den “schlauesten unter den Männern”. Wie Prometheus kam er dem Plan der Götter mehrmals selbstbewusst in die Quere.
Als Zeus wieder einmal eine Flussnymphe entführte, verriet Sisyphos deren Vater, dem Flussgott Asopos, wo er seine entehrte Tochter wiederfinden könne - gegen diese Information handelte er sich eine Quelle für seine Stadt ein. Aus Zorn über den Verrat schickte Zeus Thanatos aus, Sisyphos in den Hades zu holen. Doch Sisyphos lud den Tod zum Wein ein und machte ihn dabei so betrunken, dass er sich wehrlos fesseln und einkerkern liess. Der Tod war damit von der Welt gebunden, niemand starb. Die Götter waren überrascht und zornig. Vor allem aber Ares, Gott des Krieges, fühlte sich entmachtet, da niemand mehr am Schlachtfeld sterben konnte, und befreite den Tod.
Ein zweites Mal kam Thanatos zu Besuch und diesmal musste Sisyphos in die Unterwelt der Schatten folgen. Doch in weiser Voraussicht hatte er zuvor seiner Frau Merope aufgetragen, seinen Leichnam unbegraben liegen zu lassen. In der Unterwelt angekommen, empörte er sich über seine Frau und bat Persephone, zurückkehren zu dürfen, um seine Frau für dieses Versäumnis zu bestrafen. Doch aus der Unterwelt entlassen hatte und zurück in Ephyra, dachte er nicht daran zurückzukehren. Er lebte noch lange mit diesem Triumph, den Tod ein zweites Mal überlistet zu haben, und wurde in Ruhe alt.
Dieser ungeheuerliche Sieg über den Tod beflügelte antike Autoren, ihm weitere trickreiche Heldentaten zuzuschreiben. Eine der bekanntesten Geschichten ist seine Fehde mit dem antiken Meisterdieb Autolykos. Da Sisyphos vorausschauend die Hufe seiner Schafe markiert hatte, konnte er den Herdendieb Autolykos seiner Tat überführen und die Herde und die Lacher auf seine Seite bringen. Sisyphos rächte sich für den Diebstahl, indem er in guter antiker Tradition die Tochter des Gegners, Antikleia, schwängerte. Deshalb wird oft nicht Laertes, Antikleias Ehemann, sondern Sisyphos als Vater des Odysseus betrachtet. Odysseus, der Listenreiche, scheint Intelligenz und Respektlosigkeit geerbt zu haben.
Es gibt wenige Aussage darüber, wofür Sisyphos nach seinem natürlichen und friedlichen Tod von den Göttern in der Unterwelt bestraft wurde. Pherekydes vermutet:
Aus diesem Grund zwang Hades ihn, den Felsblock zu rollen, damit er nicht noch einmal fortlaufen könne.
Aber es war wohl sein Mangel an menschlicher Unterwürfigkeit unter die conditio humana, der die Götter rachsüchtig machte. Zu klug und eigenwillig darf der Mensch nicht sein, der unter der Regentschaft göttlicher (oder natürlicher) Prinzipien lebt. So wälzt sein Schatten seither als eine der berühmtesten und eindringlichsten mythologischen Figuren vergeblich einen Stein den Berghang hoch, getrieben von seinem Willen, machtlos gegen die Schwerkraft, die ihn wieder hinunterrollen lässt, immer und immer wieder konfrontiert mit der eigenen Ohnmacht. So dreht er sich seither im Auf und Ab jenseits der Zeitlichkeit. Unsterblich ist er dadurch immerhin doch geworden.
Die Eisenzeit, aus der uns diese Mythen überliefert sind, hätte eine friedliche Zeit sein können. Nach dem Dunklen Zeitalter des 13. und 12.Jahrhundert vor Christus, von den Ägyptern Seevölkersturm genannt, in dem mit den neuen Bronzewaffen gut ausgestattete Horden ziellos durch Europa und den ganzen Mittelmeerraum zogen, alles verwüsteten, was ihnen in den Weg kam und die blühenden Hochkulturen zerstörten, gab es für die sich langsam wieder aufbauenden griechischen Stadtstaaten kaum vergleichbare Bedrohung von aussen.
Doch diese “aussenpolitische” Ruhe nützen sie, einander gegenseitig fast pausenlos mit Kriegen zu überziehen und sich im Wettrüsten zu überbieten. In der Bronzezeit würde das Kriegführen erfunden, die Eisenzeit manifestierte und organisierte diese Erfindung und liess das Prinzip und die Werte des Kriegers tief in die Gesellschaft eindringen. Der Ilias des Homer - einer griechischen Bibel - ist der militärische Patriotismus identitätsstiftend eingeschrieben. Sieg in Wettkampf und Krieg gelten hier als männliche Schönheit, während Unterlegene mitleidlos verachtet werden und Niederlage gleichzusetzen ist mit Schwäche und Feigheit. Lustvoll schildert Homer in der Ilias das Schlachten des Gegners. Der Krieg war zum menschlichen Normalzustand geworden.
Eine Gestalt wie Sisyphos als Gründungsvater seiner im “Seevölkersturm” geschleiften und als Korinth wiedererrichteten Stadt war bereits eine fragwürdige Identifikationsfigur: Nicht Kampfkraft und Gewalt verschafften dem Ahnherrn seine Siege, sondern Tricks und Rafinesse. Nicht todesmustig gegen einen Feind, sondern gegen den Tod selbst spielte er, der schlaueste unter den Männern.