Barmherzige morden nicht
Die im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums geschilderte Weltgerichtsszene mit ihrer Aufzählung von Werken der Barmherzigkeit als eine Anleitung zur Verbesserung der Welt verstehen zu wollen, wäre ein Missverständnis. Hier geht es nicht um Hinweise zur besseren Gestaltung menschlichen Zusammenlebens, sondern um etwas viel Grundsätzlicheres. Es geht um die Frage, was Gott mit dieser Welt zu tun hat. Kommt er in ihr vor oder ist er ihr fern? Jene Menschen, denen sich der Weltenrichter als ersten zuwendet, haben offenbar Gott in dieser Welt nicht erfahren. Sie haben wohl auch nichts gegen ihn unternommen. Er scheint ihnen abhandengekommen zu sein. Das ist in Europa eine weit verbreitete Erfahrung. Im heutigen Europa, muss gesagt werden. Denn früher war es anders. Wie aber kann Gott verloren gehen? Es fragt sich, welcher Gott? Denn umgekehrt kann auch gefragt werden, ob nicht Gott immer auch der ist und sein muss, der verborgen ist, der immer wieder verloren gehen muss.
Wie auch immer. Auf jeden Fall hatten jene, vom Richter als „Gesegnete meines Vaters“ Bezeichneten, keine Ahnung davon, dass sie ihr barmherziges Tun mit Gott in Beziehung gesetzt hat, ja dass es Gott selber gegolten hat. Das musste ihnen erst nachträglich gesagt werden. Damit wird auch gesagt, dass es, wenn es um die Frage geht, was Gott mit der Welt zu tun habe, gar nicht darauf ankommt, ob eine Beziehung zwischen Welt und Gott bewusst wahrgenommen wird. Es ist vielmehr so, dass ein bestimmtes Handeln die Welt der Menschen von sich aus in Beziehung zu Gott setzt, oder besser gesagt, eine bestehende Beziehung zwischen Welt und Gott darstellt. Das Handeln der Barmherzigkeit bedeutet auch nicht bloß ein einmaliges und punktuelles Tun von Einzelpersonen, sondern entfaltet sich in entwickelten Gesellschaften zu einem System sozialer Gerechtigkeit. Auch diese Gesellschaften sind, theologisch betrachtet, in einer Gottesbeziehung verwurzelt, selbst wenn sie sich dessen ausdrücklich nicht mehr bewusst sind.
Daher ist es von großer Bedeutung, die grundsätzliche Beziehung zu dem Gott immer neu zu thematisieren und in Erinnerung zu rufen. Wo das nicht geschieht, besteht die Gefahr eine Erlahmens und Absterbens der Beziehung. Der Gott der Barmherzigkeit selber stirbt nicht. Er kann nicht eines gewissermaßen natürlichen Todes sterben. Er wird ermordet. Das geschieht dort, wo eine Gesellschaft den Werken der Barmherzigkeit keinen Raum schenkt. Es geschieht dort, wo der Stärkere bestimmt, was als Recht zu gelten hat. Es geschieht dort, wo die Schwachen nach und nach aus einer Gesellschaft entfernt werden oder wo sie im Dienst der Starken versklavt werden. Wenn in einer Gesellschaft Barmherzigkeit nicht geduldet wird, dann bedeutet das den Mord Gottes. Der barmherzige Gott wird erbarmungslos ermordet. Dem Mord an Gott folgt jeder andere Mord. Und das Morden, das hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts gezeigt, hat dann kein Ende. In Hitlers „Mein Kampf“ kommt das Wort „Barmherzigkeit“ nicht vor, wiederholt dagegen das Adjektiv „erbarmungslos“.
Die Weltgerichtsszene wirkt auf ihre Weise auch erbarmungslos, was die Behandlung der zweiten Gruppe von Menschen betrifft. Doch in dieser Form spiegelt sie bloß irdische Verhältnisse. Es besteht die Hoffnung, dass der barmherzige Gott auch noch bei jenen Funken von Barmherzigkeit findet, deren Tun völlig erbarmungslos scheint. Eines ist aber ganz klar: Das barmherzige Tun der Menschen verwirklicht die Beziehung der Welt, einer Gesellschaft, des Einzelnen zum barmherzigen Gott. Durch dieses Tun werden Welt und Gott geeint. Damit wird die Grundlage einer gerechten Gesellschaft gelegt. Darauf hat Ernst-Wolfgang Böckenförde in einem bekannten Diktum hingewiesen: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Für die gelebte Gegenwart dieser Voraussetzungen sind alle Menschen guten Willens verantwortlich.