THEATER (o teatre), 12.10.2020, Natalia Yakubova (deutsch)
Neue Interpretation von Striptease in der Oper
Das Wiener sirene Operntheater plant schon seit langem ein Festival unter dem Titel "Die Verbesserung der Welt". Dieses Jahr ist es endlich so weit, in der Herbst-Saison wird der lang geplante Zyklus von sieben Kammeropern gespielt.
Jede der sieben neuen Kammeropern steht im Zeichen eines der sieben Werke der Barmherzigkeit. "Hungrige speisen", Durstige tränken", "Kranke besuchen". Die auf der Homepage des sirene Operntheaters veröffentlichten kurzen Einführungstexte lassen allerdings nachdenklich stimmende Werke erwarten, keine moralisch belehrenden.
Eine der ersten Opern trägt den Titel „Elsa“ – „Nackte bekleiden“. Das Stück bezieht sich auf Arthur Schnitzler, einen österreichischen Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts: auf seine Kurzgeschichte „Fräulein Else“, aber nicht nur darauf. Der Geist verbotener Leidenschaften, der in Knabenturnhallen brodelt, schwebt über der Neufassung der beiden Autorinnen: Irene Diwiak (Libretto) und Margareta Ferek-Petric (Musik).
Als Dritte im Bunde zeichnet die Regisseurin (und Miterfinderin des gesamten Projekts) Kristine Tornquist die Welt der Jungen einprägsam durch ihre Konfrontation mit dominanten, streng disziplinierten Frauenfiguren: einer Sportlehrerin, die das zunehmende Erwachsenwerden ihrer Schützlinge ignoriert, und einer vornehmen Nonne, die hereinspaziert, um die Herrentoilette zu überprüfen und nicht wissend, dass sie von den verborgenen Schülern beobachtet wird, ihr fleischlich-weibliches Wesen enthüllt (beide Rollen haben keinen Gesangspart).
In der modernen Welt erscheint die Angst vor einem so superstrengen Lehrer etwas übertrieben. Wie aus dem anschließenden klagenden Trio hervorgeht, sind die Kinder in der Schule von allen Versuchungen der Außenwelt ausgeschlossen und sie sind ratlos – sie haben vergessen zu fragen: „Was soll uns dann interessieren?“
Zu Schnitzlers Zeiten zeigten sich die Jugendlichen gegenseitig Aktfotos, die sie heimlich gekauft hatten. Heute ist all das leicht zugänglich. Die Autorinnen von "Elsa" müssen etwas weiter ausholen. Sie erzählen, dass die jungen Menschen in einem Internat leben, in einer privaten katholischen Schule lernen, wo ihnen ihre Mobiltelefone das ganze Jahr über weggenommen werden.
Auf einem heimlich in der Toilette versteckten Gerät besuchen die Jungen entsprechende Seiten im Internet (das Durchblättern der Bilder wird von einem emotionalen Aufruhr im Orchester begleitet), was für die Klassenkameraden und das Publikum als „Zugang zum Verbotenen“ wahrgenommen wird.
Diese konventionelle Darstellung verzeiht man gern wegen einer sehr charaktervollen Schauspielertypen: einer der Freunde fällt durch ständige exaltierte Phrasen und Angebereien auf (Countertenor Kevin Elsnig, einfach nur schön und zugleich schön ironisch), der andere ist ein typischer Macho (der Tenor Vladimir Cabak aus Montenegro porträtiert diese Figur ohne besondere Schönheit, aber mit sachlichem Sarkasmus).
Der Hauptdarsteller entpuppt sich im 2. Akt als „Mann ohne Eigenschaften“ – Nicholas Dorsday, Star unter den jugendlichen Freunden. Vielleicht ist das Bühnenspiel ein Manko des überaus gefragten Baritons Georg Klimbacher, aber hier stimmt es mit den Eigenschaften seines Helden überein.
Jeder dieser Teenager mag seine eigenen Gründe haben, warum er beweisen muss, dass der Eintritt in die „Männlichkeit“ bereits stattgefunden hat – aber das liegt nicht im Interesse der Macher des Stücks. Nikolaus bietet seinen Freunden eine Wette an: Die Feiertage stehen vor der Tür, sie holen ihre Handys, gehen nach Hause und dort wollen sie sich eine Aufgabe geben: keine „verpixelte“, sondern eine wirkliche und lebendige Frau nackt zu sehen und das zu dokumentieren.
Im nächsten – entscheidenden – Bild sehen wir Nikolaus bereits am Ende des Sommers, in seinem Zimmer, neben einem in der Hitze neben dem Bett gewachsenen Stapel unnötiger Decken, Unterwäsche, leerer Flaschen – und mit einer offensichtlich unerfüllten Aufgabe, denn seine Avancen gegenüber der im Haus arbeitenden Putzfrau werden schnell deutlich.
Dieses Treffen wird uns jedoch nicht um ein weiteres Bild der Initiation eines jungen Mannes mit Hilfe einer Magd bereichern, es ist eher ein komplizierter und tragisch unlösbarer Konflikt zwischen Vertretern sich nicht überlappender sozialer Schichten.
Darum geht es in der Rolle der amerikanischen Mezzosopranistin Solmaaz Adeli in Elsa nicht. Ihre Heldin wird am Rande der Welt dieser Kammeroper erscheinen und wieder verschwinden, im hinteren Teil der Bühne.
Generell wird der Zyklus dieser Kammeropern im nicht ganz kammermusikalischen Raum F23 gespielt (einst – das ist kein Scherz – befand sich hier eine Fabrik zur Herstellung von Särgen). Das Spielfeld ist ziemlich gross, in der Tiefe spielt ein Orchester unter der Leitung von Edo Micic, dem man keine Zeit hat zu folgen, obwohl es eigene Auftritte hat: die Orchestermitglieder erzeugen viel Klang durch besondere Effekte und fungieren auch als Chor, quasi als "innere Stimme" des Helden.
Die „Intimität“ der Handlung wird geradezu komisch durch winzige Trennwände angedeutet, die bis in die Mitte des großen Saals reichen (Bühne: Markus Liszt und Michael Liszt). Am Anfang und am Ende stellt diese Einfriedung drei Kabinen der Herrentoilette dar, in der zentralen Szene das Zimmer des Nikolaus.
Also kommt Elsa-Adeli aus dem Zuschauerraum, mit einem riesigen Putzwagen mit improvisiertem Material, das Reinigungskräfte hinter sich herrollen, und staubsaugt melancholisch, an ihren Wagen gefesselt, auf dem Boden herum.
Ihr Dialog mit Nikolaus wird natürlich gewisse Überschneidungen zwischen dem ärmlichen Leben einer Putzfrau und dem gut ausgestatteten „Baron“ aufzeigen; diese Schnittpunkte sind voller verschiedener Obertöne.
Elsa betritt das Zimmer wie eine überlebensgroße Gymnasiastin. Sie ahnt mögliche Provokationen seitens des heranreifenden Jugendlichen, aber mit der inneren Überzeugung, dass ihr Lebenswissen, ihre Widrigkeitsmüdigkeit und innere Stabilität (Mutter zweier Kinder, Ehefrau eines schwachen Ehemanns) eine unzerstörbare Rüstung sind. Mit Abscheu hebt sie die verstreuten Dinge vom Boden auf, und wenn sich ihre Hände beim Abwischen von Möbeln plötzlich mit übertriebener Zärtlichkeit zu bewegen beginnen, dann ist dies wahrscheinlich nur die Halluzination eines jungen Mannes. Elsa weiß genau, dass sie keine Liebesabenteuer braucht – sie braucht einen Job, und das eine ist mit dem anderen unvereinbar.
Nicholas macht ihr ein Angebot. Für fünfzehn Minuten Posieren vor dem Handy bietet er ihr mehr Geld als seine Eltern für 500 Stunden Arbeit zahlen. Es ist unmöglich, genau nachzuerzählen, welchen Weg Elsa einschlägt, und es ist schwer zu begreifen, wann genau sie die Gewinnerin dieses für sie zunächst demütigenden Deals wird. Ist es, als sie es plötzlich zur Bedingung macht, dem Teenager ihren „blöden Traum“ zu erzählen, und er solle nicht lachen? Und sie sagt, dass sie in ihrer Jugend davon geträumt habe, an der Stange zu tanzen, damit die Betrachter den Kopf und ihr Glück verlieren würden. So albern es auch klingen mag, Elsas Körper beginnt immer mehr an Wert zu gewinnen. Der Grund dafür ist wahrscheinlich die Musik selbst und natürlich der Auftritt von Solmaaz Adeli. Die träumende Putzfrau sitzt bereits auf dem Schoß des Gymnasiasten. Er ist entsetzt und versteht, dass er diese erwachte Sinnlichkeit einer reifen Frau nicht braucht.
Das Ende der Szene ist kathartisch. Elsa erfüllt ihren Teil des Vertrags wie in Trance, ohne jedoch aufzuhören, Bedingungen zu diktieren und sie mit phänomenalem Gespür mit immer neuer Bedeutung zu füllen. Sie kehrt zu ihrem Putzwagen zurück und beginnt sich dort auszuziehen. Sie lockert ihr dichtes Haar, entledigt sich ihrer blöden Arbeitsrobe – und entfernt sich mit dem Trolley zur Seite. Sie zieht ihr Kleid aus und bewegt sich immer weiter in die Tiefe der Bühne, immer an den Trolley gefesselt.
Nicholas bittet um jedes noch so kleine Zeichen, dass es sich bei ihrer Einigung doch um eine freundschaftliche, wenn nicht sogar „freundschaftliche“ Angelegenheit handelt. Er bittet sie, ihn beim Vornamen zu nennen. Aber Elsa bleibt hartnäckig. Er bekommt, wofür er bezahlt hat: eine Putzfrau, die sich auszieht. Sie zieht sich aus, weil ihre wahre Arbeit tausendmal weniger geschätzt wird. Und er wird das Geld auf dem Küchentisch liegen lassen, wie es seine Eltern tun.
Gleichzeitig wird jeder ihrer Rückzuge in die Tiefe, in die Dunkelheit, jede neue Geste dieses – riskant zur Schande werdenden – Stripteases nicht nur von trockenen Formeln begleitet, sie singt mit leiser Stimme, mit Sprechgesängen und vagen, undeutlichen und trägen Schreien: in diesem Teil wird der gesamte Drei-Oktaven-Bereich der Stimme von Solmaaz Adeli ausgenutzt. Der Abschied wird als eine Art Erinnerung an ein ruiniertes Leben dargestellt – ein Leben, das niemanden interessierte, natürlich auch diesen jungen Mann nicht.
Im Schlussteil wird sich Nicholas Dorsday weigern, seinen Mitstreitern den Nachweis zu erbringen, dass er die Bedingungen der Wette erfüllen konnte. „Sie zog sich vor meinen Augen aus, aber ich hatte das Gefühl, als würde ich mich ausziehen.“
Ein trauriges Trompetensolo erklingt auf der leeren Bühne.