Wörter und Zahlen. Das Alphabet als Code
Auszüge aus Christian Reder: Wörter und Zahlen. Das Alphabet als Code (Homepage von Christian Reder)
1. Edgar Allan Poe: Die Methode der Komposition
Auf Mallarmé bezogen hat Paul Valéry (1871-1945) davon gesprochen, dass ihn seine Forschungen, aufgrund derer Poesie wieder so wirksam wie Musik werden sollte, als Dichter „einem jener modernen Mathematiker ähnlich machten, die die Grundlagen der Naturwissenschaft erneuerten und ihr eine neue Reichweite und Macht verliehen, als Folge einer zunehmend verfeinerten Analyse ihrer Grundbegriffe und ihrer grundlegenden Konventionen“. Auch Edgar Allan Poe (1809-1849) ist für ihn Mathematiker, Philosoph und großer Schriftsteller gewesen, „der Dämon der Klarheit“, „der literarische Ingenieur“, der als erster den Gedanken gehabt habe, „den Werken ein theoretisches Fundament zu geben“. Sein intensives Interesse für Logik – und damit für Kriminologie, für Kryptographie –, das ihn zu einem anerkannten Experten für Geheimschriften gemacht hat, ergibt komplexe Verbindungen zur Thematik Schrift, zum Entziffern, zum Rekonstruieren. E. A. Poe hat seine strenge Lehre, „in der eine Art Mathematik und eine Art Mystik vereinigt sind“ (1), in seinem berühmten Aufsatz Die Methode der Komposition präzisiert, einer literaturgeschichtlichen Zäsur. Am Beispiel seines bekanntesten Gedichtes The Raven legt er exakt die Entstehungsbedingungen dar: „Meine Absicht ist deutlich zu machen, daß sich kein einziger Punkt in seiner Komposition auf Zufall oder Intuition zurückführen läßt: daß das Werk Schritt um Schritt mit der Präzision und strengen Folgerichtigkeit eines mathematischen Problems seiner Vollendung entgegenging.“ (2)
Der Titel drückt das in codierter Form exakt aus. Auf Basis der alphanumerischen Buchstabencodes (a=1, b=2. c=3 bis z=26) entspricht The Philosophy of Composition (345) genau der inhaltlichen Aussage: The elimination of occasional accidents (345). Auch in der Übertragung wiederholt sich diese Präzision; Die Methode der Komposition (271) hat denselben Eigenwert wie Ausschaltung des Zufalls (271). Ob das Poe bewusst gewesen ist, wie dass auch raven (60) und word (60) so wie The Raven (93) und writer (93) den gleichen Zahlenwert haben, bleibt offen. Die professionelle Beschäftigung mit Codierungs- und Decodierungssystemen würde dafür sprechen; erstaunlich wäre nur, dass er eine solche weitere ,mathematische‘ Dimension nicht in seine Theorie aufgenommen hat. Vielleicht wollte er diese Ebene unkommentiert lassen. Dass auch sein voller Name Edgar Allen Poe (115) vom Klang her den gleichen Codewert ergibt wie sein Schlüsselwort Nevermore (115), wenn das Spiel mit den Vokalen, von Allan zu Allen, wie das bei ihm ausdrückliche Absicht ist, miteinbezogen wird, macht eine so kompakte mathematische Struktur sichtbar, dass ihre Wahrscheinlichkeit in einem wissenschaftlichen Licht erscheint. Die einzige kleine Abweichung von a zu e könnte als bewusst eingebauter Fehler aufgefasst werden, der auf die musikalischen Nuancen zwischen Laut und Buchstabe aufmerksam macht. In gesprochener Form, mit ihren Variationsmöglichkeiten, verschwinden solche Unterschiede. Die mit Nevermore (115) aufs engste ,verwandten‘ Wörter sind übrigens masterpiece (114), combination (115), arrangement (116), pragmatism (117). Offenbar ist ihm auch ohne eine solche Kombinatorik die entsprechende Präzision gelungen.
Von ihm selbst wird die Wahl des Wortes Nevermore ohne jeden Bezug auf eine allzu geheimnisvolle „Unterströmung an Bedeutung“, wie er das anderswo nennt, begründet: „Aus dem Entschluss zu einem Refrain erwuchs als notwendige Folge die Aufteilung des Gedichts in Strophen: der Refrain bildet den Abschluss jeder Strophe. Dass ein solcher Abschluss, um Kraft zu haben, klangvoll sein und eine gedehnte Betonung erlauben musste, ließ sich nicht bezweifeln; und diese Überlegungen brachten mich unvermeidlich auf das lange o als den klangvollsten Vokal, in Verbindung mit dem r als den am besten artikulierbaren Konsonanten. Als der Klang des Refrains so festgelegt war, galt es, ein Wort zu wählen, das diesen Klang enthielt und zugleich möglichst nahe an jene Melancholie herankam, die ich als Stimmung des Gedichts festgelegt hatte. Bei einer solchen Suche ist es völlig ausgeschlossen, das Wort ,Nevermore‘ zu übersehen. Tatsächlich war es das erste, das sich mir anbot.“ (3)
Dass bei dieser so deutlich begründeten zwingenden Entscheidung sogar genaue numerische Entsprechungen, also Symmetrien, zwischen Schlüsselwörtern herausgekommen sind – als Begleiterscheinung, die mit den poetischen Absichten und Wirkungen nichts zu tun hat – scheint über Zahlen zu bestätigen, was er schließlich im Alexander von Humboldt (1769-1859) gewidmeten Prosagedicht Heureka als seine grundlegende wissenschaftliche Vorstellung formuliert hat: Es gehe um „das GESETZ“, denn bei vorurteilsfreiem Denken ergebe sich zwingend die Auffassung, „dass jegliches Naturgesetz in jeglicher Hinsicht mit allen übrigen Gesetzen untrennbar zusammenhängt“. Die Wahrheit liege in der Struktur, denn „ein perfekter innerer Zusammenhang“ könne „gar nichts anderes sein als eine absolute Wahrheit“. (4)
Für W. H. Auden (1907-1973) ist diese poetische Abhandlung als Entwurf eines Weltmodells „voll von bemerkenswerten intuitiven Vorwegnahmen, die von späteren wissenschaftlichen Entdeckungen bestätigt wurden“. (5) Die darin erkennbare Tendenz zu einer allgemeinen Relativität, zum Vorhaben Einsteins, die „Einheit der Natur – die einfachsten aller Gesetze zu finden“, die „systematische Einführung des Gedankens des Beobachters – worin ja die Relativität besteht“, hat auch Paul Valéry beeindruckt, der darin einen ziemlich genauen Versuch sah, „das Universum durch innere Eigenschaften zu bestimmen“, indem „symmetrische und wechselseitige Beziehungen zwischen Materie, Zeit, Raum und Licht behauptet werden. Ich habe“ – bekräftigt Valéry – „das Wort symmetrisch hervorgehoben: das wesentliche Merkmal der Darstellung des Weltalls nach Einstein ist in der Tat eine formale Symmetrie. Sie macht seine Schönheit aus“ – gerade, weil die Materie „eine Ansammlung von Transformationen ist, die sich im Kleinen, im Allerkleinsten noch fortsetzen und verlieren“. (6)
Das Alphabet bestätigt diese Ansicht, indem es den Zahlenwerten nach Metaphysik (127) mit Symmetrie (127) gleichsetzt, Transformation (183) mit Rechnung (90) + Grammatik (93), mit Struktur (148) + Magie (35), mit Mythos (100) + Schrift (83) .
(1) Paul Valéry: Existenz des Symbolismus (1939).Werke. 1989. Band III, S. 335 f., Die Situation Baudelaires (1924), S. 215, 228, Cahiers/Hefte (1973/74). 1993. Band VI. S. 366
(2) Edgar Allan Poe: Die Methode der Komposition (1846). Das gesamte Werk, 1980. Band X. S. 533 f.
(3) Ebda., S. 538 f.
(4) Edgar Allan Poe: Heureka (1848). Das gesamte Werk, 1980. Band V. S. 985, 1044
(5) W. H. Auden: Ein Bewußtsein der Wirklichkeit (1943–1974), 1989. S. 123
(6) Paul Valéry: Cahiers/Hefte (1973/74). 1993. Band VI. S. 412, 421, Paul Valéry: Werke. 1989. Band IV. S. 114 f.
2. John Cage: Vortrag über nichts…
Bei Transfers zwischen vielfach kaum noch in Kontakt stehenden Spezialgebieten wird die Zahl selbst der Vermittler, manchmal. Der Vortrag über nichts von John Cage (1912-1992) wäre dafür ein Beispiel, beginnend mit der Feststellung „Ich bin hier – , – und es gibt nichts zu sagen“, im Textbild typographisch exakt gegliedert und präzise kommentiert: „Es gibt vier Takte in jeder Zeile und zwölf Zeilen in jeder Einheit der rhythmischen Struktur. Es gibt achtundvierzig solche Einheiten, jede zu achtundvierzig Takten. Das Ganze ist in fünf große Teile im Verhältnis 7, 6, 14, 14, 7 gegliedert. Die achtundvierzig Takte jeder Einheit sind ebenfalls so gegliedert. Der Text ist in vier Kolonnen gedruckt, um ein rhythmisches Lesen zu erleichtern.“ Poesie ist für ihn „nicht Poesie aufgrund ihres Inhalts oder ihrer Mehrdeutigkeit, sondern weil sie erlaubt, in die Welt des Wortes musikalische Elemente (Zeit, Klang) hineinzunehmen.“ (1) Die Bedeutung der Zahl ist bei ihm offensichtlich, allerdings losgelöst von jeder weiteren sprachlichen Bedeutung. Dass seine dabei verwendete Schlüsselzahl 48 verbale Bezüge zu sex (48), blood (48), crime (48) herstellt, hätte er wahrscheinlich lächelnd zur Kenntnis genommen. Bei den teils in Kooperation mit Pierre Boulez (1925-2016) ausgeführten Kompositionen in Tabellenform sind exakte numerische Zeitangaben ein entscheidendes Element. Seine Number Pieces verweisen durch ihre Titel auf die Zahl der beteiligten Musiker. Cages Interesse „aus dem Wahrscheinlichen das Unwahrscheinliche zu gewinnen“ traf sich teilweise mit Marcel Duchamp (1889-1963), ohne dass es einen Widerspruch gegeben hätte zur „Idee einer Überantwortung herkömmlicher musikalischer Logik an übergreifendere Wahrscheinlichkeiten“. Cages Konflikthaltung gegenüber der traditionellen Notenschrift oder die Einbeziehung des Zufalls war auch eine Abgrenzung von der seriellen Musik, in der möglichst alle Strukturelemente „durch die vorweg festgelegte Ordnung von Zahlen und Proportionsreihen bestimmt“ sind. Das Ausschließen hat ihn gestört; der Zufall, so sagt er, „liefert uns sehr schnell und effizient eine völlig unerwartete Kombination der Dinge“; im übrigen habe er fast seine gesamte künstlerische Produktion dahingehend ausgerichtet, „Fragen zu stellen, statt eine subjektive Wahl zu treffen“. (2)
Dass Johann Sebastian Bachs Proportionen und Symmetrien in den 1920er Jahren neu bewertet worden sind, hat solche Konzeptionen beeinflusst. Alban Bergs (1885-1935) intensives Verhältnis zu Zahlen – vor allem zu 23 – und zu Symmetrien ist bekannt. Aus den 479 001 600 Möglichkeiten der Abfolge von 12 Tönen hat Josef Matthias Hauer (1883-1959) seine Ordnung mit 44 Tropen entwickelt, als Gesetzmäßigkeit einer bereits vorhandenen Musik, für die der Komponist letztlich überflüssig ist. Diese numerische Perspektive hat ihm übrigens Heinz von Foerster als Mittelschüler errechnet, der auch eine seiner Begründungen für die Zwölftonmusik überlieferte: „Die ganze Notenschrift mit den 5 Linien ist eine Lüge.“ (3) Die Opposition gegen solche Auffassungen, insbesondere auch gegen Arnold Schönberg (1874-1951), hat sich darauf berufen, dass diese Musik zu konstruiert wirkt. Dem eingeforderten Gefühl wird unterstellt, dass es unberechenbar sein muss. Unberührt von solchen Aversionen werden für Kompositionen der Goldene Schnitt und die Fibonacci-Reihe verwendet; György Ligeti (1923-2006) hat sich daran orientiert oder Iannis Xenakis (1922-2001). Olivier Messiaen (1908-1992) hat Die leichte Zahl (Le nombre leger), so der Titel einer seiner Préludes, und Primzahlen wichtig genommen. Imre Kertész (1929-2016) stellte für seinen Roman eines Schicksallosen selbst einen Bezug zur Zwölftonmusik her, mit ihren zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen; der Titel hat im Ungarischen zwölf Buchstaben (Sorstalanság), so wie das Wort schicksallos im Deutschen, und das verweise auf die atonale Konzeption, auf den Grundzug, dass „keine gültigen ethischen Gesetze“ dargestellt werden.
(1) John Cage: Silence (1961), 1995. S. 6, 159
(2) Dorit Lecke: „It ends by being melodic.“ Der Zufall als Kompositionsmethode bei John Cage. John Cage im Gespräch mit Harald Lüders. In: Hilmes /Dietrich Mathy (Hg.): Spielzüge des Zufalls, 1994. S. 189, 201 f.
(3) Heinz von Foerster: KybernEthik, 1993. S. 43 f.
3. Die Alphabetsumme
Die Summe aller Buchstaben des Alphabets ergibt 351. Wie zufällig wirkend, betont dieser Wert jedoch explizit, dass die gleiche Wellenlänge von Wörtern (Code 351) zu beachtet sei und der summierte Buchstaben-Eigenwert (Code 351) interessante Relationen herstellt und damit die Schrift als Beobachtungssystem (Code 351) in zusätzlichen Dimensionen wirksam wird. Die dafür entscheidenden Messgrößen, die Buchstaben (als Notation von Lauten), sind – beabsichtigt oder nicht – als Faktoren für die Bildung vorerst unsichtbarer Strukturen präsent. In Summe bilden sie the alphabet for fiction and non-fiction (Code 351). Analoge Strukturen sind offenbar in allen Sprachen aufspürbar.
Zum Gesamtwert des Alphabets summiert sich merkwürdiger Weise auch das als streng rationales Geometrielehrbuch konzipierte Werk Die Ethik von Baruch de Spinoza (1632-1677) in seinem Originaltitel Ethica Ordine Geometrico demonstrata (351). Das wirkt wie ein bewusster Bezug zu seinem ketzerischen Denken über die sich ohne höheren Willen selbst verursachende Natur. Auch beim Titel des Hauptwerks von Marcel Duchamp (1887-1968), dem Großen Glas, ist das so: Mariée mise à nu par ses célibataires, même (La) 351+[13]. Als ein vager – inhaltlich nichts präjudizierender – gemeinsamer Nenner lässt sich aus dem summierten Eigenwert der 26 Buchstaben sogar eine allgemein brauchbare Formel bilden: die Anzahl der Möglichkeiten vermehren (351).
Was können solchen Forschungen letztlich ergründen? Was sich aus Zufällen ergeben kann – gerade weil der Zufall nicht wissen kann, was vorher geschehen ist und seine Abfolge von Wahrscheinlichkeiten abhängig bleibt.
Als Wort hat Zufall (78) den gleichen Buchstabenwert wie Witz (78) – aber auch wie Erotik (78), Schmuck (78), Kritik (78) oder Anatomie (78) als offenes Feld sich von Berechnungen lösender Assoziationen. Das Wort Alphabet (65) selbst verweist auf Medium (65), auf Papier (65), auf Netz (65) oder Gebrauch (65) – Sprache (70) wiederum auf Zeichen (70), Kapital (70) oder Ironie (70).