Lurianische Kabbala – Zimzum und kosmische Bäume

Ein Essay von Akrap Domagoj

Nach der Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel (1492 und 1496) entwickelte sich das Städtchen Safed in Nordgaliläa zum neuen Zentrum der Kabbala. Die Wahl war kein Zufall – hier wirkte schon Shimon bar Yochai (2. Jh.), der traditionelle und vermeintliche Autor des Hauptwerkes der Kabbala, des Zohar und seine Schüler. Ganz in der Nähe befindet sich auch sein Grab, bis heute ein Pilgerort für fromme Juden.

Viele Exilierte fanden im Osmanischen Reich, wo damals Safed lag, eine neue Heimat. Safed wuchs nicht nur zu einem neuen spirituellen Zentrum heran, sondern auch zu einem des Religionsgesetzes.

Die enge Verbindung von Religionsgesetz und mystischer Lehre führte dazu, dass das eine im Lichte des anderen neu interpretiert wurde. Nicht zufällig wurde der Zohar (kurz vor 1300 fertiggestellt) ab 1500 immer mehr als legitime Quelle bei religionsgesetzlichen Entscheidungen akzeptiert.

Für die Kabbalisten in Safed war der Zusammenschluss zu kleinen Gruppen, Bruderschaften (Havurot), charakteristisch. Das Vorbild waren dabei die Rabbiner der talmudischen Zeit. „Wenn es um die Liebe zu den Gefährten (haverim) geht, mit denen man Tora zusammen lernt, dann soll sich jeder einzelne mit den anderen so verbunden fühlen, als sei er ein Glied am Körper der Gemeinschaft. Dies ist besonders dann von Bedeutung, wenn jemand die Kenntnis und mystische Einsicht hat, die man braucht, um die Seele seines Gefährten zu verstehen.i Sowohl im Glück wie im Leid standen die Gefährten zueinander. Hier werden bewusst das Gefühl und die Umstände, unter denen R. Shimon bar Yochai wirkte, nachempfunden. Die Mitglieder des Zirkels um Isaak Luria (1534-1572) sahen sich als Reinkarnation der zoharischen Bruderschaft und Luria selbst als Shimon bar Yochais Inkarnation.ii Das Besondere war das Verbinden der mystischen Vorstellungen mit frommem Lebenswandel und neuen religiösen Praktiken. Die Bruderschaften wurden das wichtigste Mittel zur Verbreitung der neuen kabbalistischen Lehren.

Eine starke asketische Neigung war ein weiteres Merkmal der Kabbalisten in Safed. Es drückte sich in diversen Einschränkungen und strengen Fastenregeln aus. Dazu gesellten sich Bußrituale und eine an Verachtung grenzende Abwertung der materiellen Welt. Ihnen standen allerdings die Freude am Gottesdienst gegenüber, die von jedem Gläubigen am Schabbat verlangt wird, wie auch die Tatsache, dass der Körper zur Buße der Sünden herangezogen und bildlich zum Gefäß wird, der durch rituelle Handlungen zum geistigen Aufstieg verhilft.

Von den vielen kabbalistischen Bruderschaften, die im 16. Jahrhundert in Safed hervortraten, war jene des Isaak Luria (1534-1572), später ehrenhaft Ari (der Löwe) genannt, die wichtigste. Bald nach seinem frühen Tod wurde sein Leben mit legendenhaften Erzählungen versehen – so soll bei seiner Beschneidung der Prophet Elija anwesend gewesen sein, im frühen Kindesalter soll er mit seinem rabbinischen Wissen die Gelehrten Ägyptens beeindruckt haben und als er sich für zwei Jahre in eine Hütte am Nil zum Meditieren zurückgezogen haben soll, erlangte er die höchsten Stufen der Heiligkeit und es ereilte ihn der Ruf Elijas ins Heilige Land zu gehen. Diese und andere wundersame Schilderungen wurden in den Shivhe ha-Ari und Toldot ha-Ari überliefert und ließen eine neue Literaturgattung im jüdischen Schrifttum entstehen – die Hagiographie.iii Die beiden Schriften dienten als Vorbild für weitere Hagiographien, wie sie später im osteuropäischen Chassidismus Verbreitung fanden.

Luria kam spätestens im Sommer 1570 von Ägypten, wohin die Familie nach dem frühen Tod des Vaters gezogen war, nach Safed. Hier unterrichtete er bis zu seinem frühen Tod nur knappe zwei Jahre. Lurias Wirken war gekennzeichnet durch die mündliche Überlieferung. Der Meister hinterließ kaum etwas Schriftliches und kein einziges niedergeschriebenes Werk von ihm ist zu uns gelangt. Diese Aufgabe wurde Chaim Vital (1542 – 1620) zuteil, der als sein nächster Schüler Jahre später sukzessive die Lehren ordnen und für die Nachwelt niederschreiben sollte.

Lurias Lehre kann guten Gewissens als naturwissenschaftlicher Mythos bezeichnet werden, der fest im frühneuzeitlichen Denken verankert ist. Für seine Welterklärung entwickelte er eine ausgesprochen vielschichtige und moderne Theorie, die dabei häufig ihre Begründung in den physikalischen Prozessen der Natur sucht.iv Es wird eine perfekte Parallelität zwischen göttlichen und menschlichen Vorgängen beschrieben und ihre Abhängigkeiten untersucht. Zahlreiche Darstellungen Gottes werden in Bildern, die eine mechanische Vorstellung wiedergeben, geschildert. Auch die für die Renaissance charakteristische Fokussierung auf den menschlichen Körper findet sich in den lurianischen Lehren wieder. Begriffe wie Adam Kadmon (der kosmische Urmensch), Zeir Anpin (der „Ungeduldige“, das männliche Prinzip), die Partzufim (Gesichter; Personifikationen der göttlichen Wirkungsmächte, Sefirot genannt) lassen allesamt Rückschlüsse auf menschenähnliche Gestalten zu. Chaim Vitals Erklärungen auf Basis exakter mathematischer Prinzipien und den damals einsetzenden illustrativen Darstellungen Gottes in Form der Ilanot (Bäume) haftet etwas Mechanisches an.v

Lange Zeit war die Kabbala-Forschung auf die Ideengeschichte konzentriert und vernachlässigte ihre grafischen Darstellungen. Allerdings versuchten Kabbalisten von Anfang an, die göttliche Struktur in anschaulicher Weise zu materialisieren. Der kabbalistische Ilan (Baum) ist das typische Ergebnis einer solchen Materialisierung des Göttlichen. Die Anfänge der Ilanot (Bäume) liegen im 14. Jahrhundert, aber erst mit der lurianischen Kabbala zwei Jahrhunderte später wurden sie detaillierter und umfangreicher.vi Ein Charakteristikum der lurianischen Kabbala war ihre Präzision, mit der sie Vorgänge im Göttlichen schilderte. Die Ilanot sind der beste grafische Ausdruck dafür. Sie stellen die Struktur Gottes und seiner Welten minutiös dar. Die Astronomie wird zur Anatomie Gottes und sie wird dem Betrachter unverhüllt dargebracht. Neben komplexen Darstellungen der Sefirot in üblicher Baumstruktur, die bereits aus dem Mittelalter bekannt war, finden sich in Ilanot regelmäßig anthropomorphe Darstellungen in Form eines Antlitzes. Verknüpft werden diese Partzufim (Gesichter) mit den einzelnen Wirkungskräften Gottes und den göttlichen Lichtern bei der Schöpfung. Sie stellen Lichtkonfigurationen dar, die nach dem Shevirat ha-kelim (Bruch der Gefäße) im lurianischen Schöpfungsmythos entstanden sind. Neben den fünf aus dem Zohar übernommenen – Arikh anpin (der Langmütige), Abba (Vater), Imma (Mutter), Ze’ir anpin (der Ungeduldige) und Nukva de–ze’ir (sein weibliches Gegenüber) – enthalten die Ilanot oft weitere Partzufim. Oft werden die Struktur der Sphären und die sieben Himmel dargestellt. Die Abbildungen geben die in Schichten gedachte Struktur Gottes und des Universums wider.

Die lurianische Kabbala reiht sich damit in die europäische Wissensrevolution ein, die mit den großen Entdeckungen der Frühen Neuzeit begann.

Die Voraussetzung für die Schöpfung im begrenzten Raum wird erst durch den Zimzum, die Selbstkontraktion Gottes ermöglicht.vii Es handelt sich bei diesem Begriff um einen Prozess im unergründlichen, absolut transzendenten Teil Gottes, den die Kabbalisten En-Sof (kein Ende) bezeichnen, und der noch vor jeglicher Schöpfungstat stattfand. Der Rückzug des allgegenwärtigen, unendlichen göttlichen Lichts schafft einen freien Raum für die Schöpfung. In einem frühen kabbalistischen Druck heißt es dazu: „Vor der Erschaffung der Welt zog sich [En Sof] zurück in sein Wesen, sozusagen von sich, zu sich und in sich, und er schuf einen freien Ort in seinem Wesen, in dem er sozusagen aus sich [die Welt der] Emanation ... erschaffen konnte“.viii Zimzum ist „die Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung und Existenz von oberer und unterer, irdischer Welt“.ix

Es war vor allem die Lehre von der Kontraktion Gottes, die von christlichen Kabbalisten in Europa und manchen Philosophen und Theologen des Barock aufgegriffen und interpretiert wurde. So fand sie Eingang in die europäische Ideengeschichte. Im 20. Jahrhundert wurde das Konzept dann von Philosophen wie Franz Rosenzweig und Hans Jonas oder Künstlern wie Barnett Newman und Anselm Kiefer wiederentdeckt.x

Eine weitere spezifische Erscheinung der neuen Kabbala war das Aufkommen des Typus der Heiligen (Kedoshim). Die Heiligen nahmen eine Vermittlerrolle zwischen der göttlichen und menschlichen Welt ein und wurden im 16. Jahrhundert zur religiösen Elite. Eine charismatische Führungspersönlichkeit im Mittelpunkt religiösen Lebens war ein Novum, das Vorbildfunktion für spätere Bewegungen im Judentum hatte. Der einsetzende Wandel ist durch die Begegnung der sephardischen Diaspora mit Erscheinungsformen des Islam und des Christentums zu erklären, die bereits eine lange Tradition von Heiligenverehrungen aufweisen.xi Mit dem Erscheinen von hagiographischen Erzählungen setzte auch im Judentum ein gewisser Personenkult um den verstorbenen Heiligen ein. Ihre Mission sahen die Kedoshim in der Reform der jüdischen religiösen Tradition. So konnten sie durch ihr Vorbild bis 1700 das gesamte Ritual erneuern, wobei neben neuen Ritualen bestehende erweitert und uminterpretiert wurden – Musik und Gesang fanden Eingang in die Liturgie, neue Pijutim (liturgische Dichtung) entstanden, die Bruderschaften führten sogenannte Nacht- und Morgenwachen ein, Sünden- und öffentliche Reuebekenntnisse fanden statt. All diese Erscheinungen führten zu einer raschen Verbreitung der kabbalistischen Praktiken und Lehren und ihrem Eindringen in den Volksglauben und den religiösen Alltag der Menschen. Dieser Aspekt unterscheidet die Kabbala aus Safed grundsätzlich von den früheren Schulen. Der missionierende Eifer, der die Lehren unter allen jüdischen Schichten populär werden ließ, war eine Neuerung mit nachhaltiger Wirkung für die folgenden Generationen.

Bereits am Ende des 16. Jahrhunderts gelangten die Lehren durch Israel Sarug nach Italien, wo sie im folgenden Jahrhundert zur Entstehung einer stark philosophisch ausgerichteten Form der lurianischen Kabbala führten. In Mitteleuropa war Shabbetai Sheftel Horowitz aus Prag unter den ersten, der sie rezipierte. Der inhärente Messianismus in der lurianischen Theologie ermöglichte schlussendlich auch die Entstehung des Sabbatianismus, der größten messianischen Bewegung, die das Judentum Europas jahrzehntelang erschütterte. Dessen Prophet Natan von Gaza (1643/44–1680) deutete in seinen Schriften die lurianische Kabbala messianisch um. Über Italien breiteten sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts lurianische Auffassungen rasch nach Osteuropa aus, wo sie bereitwillig aufgenommen wurden und den Nährboden für die Entstehung der nächsten großen Bewegung – des Chassidismus – bildeten.

i S. Gerold Necker: Einführung in die lurianische Kabbala, Frankfurt am Main 2008, S. 26.

ii Vgl. Weinstein: Kabbalah and Jewish Modernity, Oxford 2016, S. 85-93.

iii Die Shivhe ha-Ari bestehen aus Briefen, die Solomon Shlomiel Dresnitz zwischen 1607 und 1609 von Safed seinem Freund nach Krakau schrieb, darin schildert er die Stadt und erzählt minutiös Episoden aus Lurias Leben. Obwohl äußerlich in Briefform gehalten, und gewiss auch wahre Begebenheiten enthaltend, haben die Briefe keinen privaten Charakter, sondern einen hagiographischen mit dem Ziel, deren Inhalt zu verbreiten. Sie wurden auch im Verlauf der Zeit literarisch verändert. Die Toldot ha-Ari wurden später gegen Ende des 17. Jh. von einem anonymen Autor verfasst und sind der Gattung nach typische Hagiographie, in deren Zentrum die Heldentaten und Wunderwirkung des Heiligen stehen, deren Historizität anzuzweifeln ist.

iv Zur lurianischen Kabbalah allgemein s. Karl Erich Grözinger: Jüdisches Denken, Bd.2, Frankfurt/Main 2005, S. 619-681; Gerold Necker: Einführung in die lurianische Kabbala, Frankfurt am Main 2008; sowie das Kapitel zu Luria in Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957. Roni Weinstein sieht Lurias Theologie als Ergebnis der damaligen Wissenschaftsentwicklung, s. dazu: Roni Weinstein: Kabbalah and Jewish Modernity, Oxford 2016.

v Vgl. Weinstein, S. 36ff.

viAn der Universität Haifa werden unter der Leitung von Yossi Chajes im Rahmen des Ilanot Projects alle kabbalistischen kosmologischen Diagramme untersucht, http://ilanot.haifa.ac.il/site/ (aufgerufen am 8.10.2022)

vii Vgl. Grözinger: Jüdisches Denken, Bd.2, S. 623-638.

viii Shabbetai Sheftel Horowitz in Shefa' Tal, zit. nach Necker, S. 88.

ix Christoph Schulte: Zimzum.Gott und Weltursprung, Berlin 2013, S. 46.

x Zur Wirkungsgeschichte der Idee des Zimzum in der europäischen Philosophie und der Kunst siehe: Christoph Schulte: Zimzum.Gott und Weltursprung.

xi Vgl. Weinstein, S. 60ff. Chaim Vital erwähnt direkte Kontakte zu muslimischen Sufi-Orden in Safed. Als von den Sufis übernommene Bräuche gelten das Singen außerhalb der Synagoge, das sich Niederwerfen auf den Gräbern der Heiligen (Kedoshim)sowie die Heiligenhierarchie im Himmel.