Die Presse, 02.11.2022, Walter Weidringer (pdf)
Mit der Kraft der Kabbala durchs All
Noch bis 11. 11.: ein kurzer, lohnender Abend der Wunder, Rätsel und Riten im Planetarium.
In seinem Oratorium „Kabbala“ versenkte sich der heuer verstorbene René Clemencic in jüdische Mystik. Das sirene Operntheater und Wien Modern nützen das Werk im Planetarium Wien zur Reise durch Mikro- und Makrokosmos.
Was anderes als der Blick in den Sternenhimmel könnte im Planetarium Wien der Ausgangspunkt sein? Ringsum am Horizont, dort, wo die Projektionskuppel auf der Wand aufsitzt, werden bald Wasserwellen sichtbar – so, als würde man nachts im Ozean schwimmen. Die Wellen steigen und verwandeln sich in ein Band, das gen Himmel entschwebt und dort weiterwabert, bis ein zweites nachfolgt, schlingert, sich zum Zeichen der Unendlichkeit verdreht. Eine gute Stunde später, gegen Ende, werden diese Wasserringe ihr Pendant im Feuer finden, in der visuell fassbar gemachten Sonnenoberfläche mit ihren Protuberanzen. Dazwischen, gegliedert in die zehn Kapitel der Partitur: Aufschlüsselungen des Urknalls, Reisen durch Molekülwolken und pittoreske astronomische Nebel, Supernova-Explosionen. Und beim schnittigen Kurven durchs Sonnensystem bekommen selbst Hartgesottene weiche Knie, weil ihnen der Bezugspunkt verloren geht und sich nicht mehr die Bilder bewegen, sondern das ganze Planetarium sich in ein fliegendes Raumschiff verwandelt ...
Partitur? Ja. Mit einem dumpf grollenden Paukenwirbel fängt alles an. Er schwillt bedrohlich an, bis ein elementarer Aufschrei daraus hervorbricht: eine signalhafte Dissonanz des Blechs, gebildet durch zwei Töne der Posaunen im Sekundabstand. Rein intuitiv sei dieser Beginn damals entstanden, hat René Clemencic einmal verraten, zu deuten habe er ihn selbst erst später vermocht: „Der Buchstabe Beth vertritt die Zahl 2, die Zahl unserer Welt: Bei uns ist alles bipolar. Mit ihm beginnt auch die Bibel: ,Bereschit‘, ,Im Anfang‘. Das Aleph davor, mit dem das Alphabet beginnt, die Eins, liegt vor unserer begreifbaren Existenz. Es hat keinen Laut, ist nur ein Hauch, existiert physisch eigentlich gar nicht. Gut, es kann ein Vokal unterlegt werden, aber man stelle sich vor: Der Beginn, die Grundlage der Buchstabenreihe ist eigentlich nicht vorhanden. Sehr merkwürdig, nicht? Und grandios!“
Der Schlüssel ist immer der falsche „Kabbala oder: Die vertauschten Schlüssel zu den 600.000 Gemächern des Schlosses“: So heißt Clemencics Oratorium in hebräischer Sprache, das der im vergangenen März 94-jährig verstorbene Komponist, Dirigent und Alte-Musik-Experte vor 30 Jahren geschaffen hat. Laut der Kabbala, wörtlich „Überlieferung“, also der jüdischen Mystik, soll es sich mit dem Geheimnis Gottes verhalten wie mit einem Schloss, in dem vor dessen 600.000 versperrten Zimmern jeweils ein Schlüssel läge – aber überall der falsche.
„Wenn alles so einfach wäre“, seufzt Wien Modern in seinem diesjährigen Motto ironisch. Die Kabbala mit ihren hoch spekulativen, komplexen, alles miteinander verbindenden Bezügen passt da ideal. Sie besagt auch: Wer in unsere eigenen geheimen Tiefen spähen will, kann die Augen auch in die Höhe richten. Denn Oben und Unten, Makro- und Mikrokosmos entsprechen einander. Das Planetarium darf demnach als der logische Schauplatz dieser virtuellen, mystisch-wissenschaftlichen, musikalisch bildhaften Reise durch Clemencics Oratorium und an dessen Themen entlang gelten. Was im Grunde uninszenierbar ist, wird in dieser Produktion des sirene Operntheaters in Zusammenarbeit mit Planetarium, Volkshochschule und Wien Modern denn auch mit filmischen Mitteln visualisiert, geschaffen von einem Astronomie- und Animationsteam und projiziert in die Kuppel zur Live-Aufführung der Musik. Unter der Leitung von François-Pierre Descamps machen fünf Männerstimmen von Countertenören bis zum Bassbariton, Blechbläser und reichhaltiges Schlagzeug Clemencics Werk lebendig, gegen die widrigen Umstände einer extrem trockenen Akustik.
„Kabbala“ kehrt das Alte am Neuen und das Neue am Alten hervor, entfaltet kultische Kraft – und zeigt, wie nahe archaische Homo-, Hetero- und früheste Polyphonie, synagogaler Gesang und etwa die Signale des Schofar neuerer Minimal Music kommen können. Jeweils einbegleitet wird das durch einen Vortrag zu verschiedenen Themen zu Kabbala, Wissenschaft und Glauben: ein kurzer, lohnender Abend der Wunder, Rätsel und Riten.