Presse
Oper in Wien, 15. März 2002, Dominik Troger
Ratloser Kommissar
Ein Kindermord und Richard Wagner als "Co-Komponist": das Jugendstiltheater auf der Baumgartner Höhe hat nach langer Zeit wieder seine Tore für zeitgenössische Oper geöffnet. Und aus der (Über-)Länge der nun folgenden Besprechung mag man auf die Ratlosigkeit schließen, die diese Uraufführung hinterlassen hat.
Ein Kindermord im Wald. Ein Kommissar und mehrere Verdächtige. Wiener Kriminalisten-Ambiente wie es Fernsehserien seit "Kottan" so gerne vermitteln. Eine sporadisch in die Szene rollende Puppenbühne als ironische Auflockerung. Das Ganze als Oper - und das Ganze als rund zweistündige "Tristan und Isolde"-Paraphrase. Ja, Richard Wagner scheint auf dem Programmzettel wirklich auch als Komponist auf - neben Jury Everhartz und ein bisschen kleiner gedruckt. Die ganze dritte Aufzugs-Partitur des "Tristan" kammermusikalisch aufzubereiten und einer Art von "Soft-Remix" zu unterziehen, war sicher eine reizvolle Herausforderung. Was das allerdings mit der eingangs erwähnten "Kriminaloper" zu tun hat, dieses Rätsel wurde trotz eifriger "polizeilicher Ermittlungstätigkeit" nicht gelöst.
Aber - als wenn die Sache nicht ohnehin schon kompliziert genug wäre - das Libretto handelt nicht nur von einem Kriminalfall. Nein, wie einfach wäre es, wenn da wirklich so eine Kriminalstory mit allen "Hardfacts" über die Bühne knallte: Ermittlungen, Beamtenscherze, eine griffige Pointe am Schluss. Das hätte Hand und Fuß für eine dramatische Umsetzung. Ein komponierter Kindsmord und seine Aufklärung. "Kottan" in der Oper. Aber kaum haben die beiden kabarettistisch angehauchten Ermittlungsbeamten ihr Tagewerk begonnen, startet die erste "Arie", und bremst die Handlung aus. Die lyrische Ausgestaltung mit der die Mutter die Auffindung ihres toten Kindes beschreibt, hat einen befremdlich unrealistischen Einschlag: "... die blassen Hände an den lichtlosen Wurzeln der Hollerbüsche / auf den Wangen Elfenschatten, die Lippen verschlossen...". Und wenn wenig später dieses ermordete Kind sich selbst zu Wort meldet: "Kommissar! Ich prophezeie dir ein schweres Rätsel... prophezeie eine Sphinx mit meinen Augen / im Beginnen schon vergangen ..." ist die Sache mit dem durchgängig, witzig-griffigen Krimi endgültig hinüber und langsam aber sicher beginnt sich die Stirn zu krausen.
Das Libretto, das dankenswerter Weise im Programmheft abgedruckt ist, zerfällt genau genommen in diese kriminalistische Handlung, bei der zwei Ermittlungsbeamte in durchaus zum Schmunzeln anregenden ironischen Sentenzen die Mordverdächtigen "examinieren" - und in diese "existentielle" Einschübe, die in stark symbolisierender Sprache anscheinend mehr über die "metaphysische" Befindlichkeit der einzelnen handelnden Personen aussagen sollen. Das Schema ist immer dasselbe: Verdächtiger wird vorgestellt, Beamter 1 und Beamter 2 stellen Fragen, plötzlich kippt die Verhörszene in ein arienhaftes Intermezzo. Der verdächtige Waldbesitzer Z formuliert dann Sätze wie: "Ich bewache den Wald / grün wie Laub und braun wie Erde / zieh ich meine Spuren auf den zimtenen Wegen" oder Hansi P., der Süßwarenverkäufer, singt plötzlich von "frisch gefallenen Engeln". Diese Einschübe werden musikalisch als Arien abgehandelt und von einer Puppenbühne zusätzlich szenisch kommentiert. Offensichtlich soll dadurch ein hinter der Handlung liegender archteypischer Zusammenhang konstruiert werden (schließlich wird gegen Ende von Anna, der Mutter des Kindes, sogar Atlantis (!) ins Spiel gebracht: "Einmal stand ich in Atlantis am Strand..."), der sich auch in der mehrmals, als Chor aufgenommenen und fast choralhaft anklingenden Zeile: "Wer hat den Schlaf der Welt gestört" als den Kriminalpart überhöhende Klammer erweisen möchte. Wenn nun durch diese dramaturgische Konzeption die Kriminalhandlung, die launigen Kommentare der Beamten, die Verhörsituation, die nun einmal die grundlegenden Spannungs- und Unterhaltungselemente sind, auf der Strecke bleiben, muss man sich fragen, was dadurch für das Publikum gewonnen wird. Mehr Spannung? Nein. Mehr Unterhaltung durch subtile Ironie? Nein. (Weil das nicht ironisch gemeint ist; dazu wird nur die Puppenbühne in viel zu zahmer Manier benützt.) Erkenntnisgewinn? Nur in dem Sinn, dass man das sehr bestimmte Gefühl hat, hier passt eins nicht zum andern.
Wie kommt nun "Tristan" zu einem Kindsmord und wie kommen alle beide zu Atlantis? Können die dem Programmheft entnommenen Überlegungen des Komponisten hier vielleicht weiterhelfen? Zitat: "Noch während der Zuschauer beiläufig der ersten Ermittlungen zum Mord einem äußeren Geschehen folgt, wechselt er unversehens die Seite, denn die Entdeckung des zunächst beobachteten Kommissars - infolge anteilnehmender Betrachtung sich selbst wenigstens zu verstricken oder gar an eine Art von Erbsünde zu vergeben - ist die Perspektive des Zuschauers, dessen Befindlichkeit wiederum ja die des Kommissars ist, der auch einem Geschehnis von außen folgt, bis es sich unversehens als eigene Geschichte entpuppt. Will heißen: Musik hat zum Bruch der geradlinigen Handlung, und eben gerade dann, wann sie nicht mehr ohne weiteres referierbar scheint, Wesentliches, vielleicht auch ihr Wesensfremdes einzulösen." Zitat Ende.
Nun, Oper ist ja eine sinnliche Sache. Wenn man als Zuhörer schon mit dem Libretto nicht zu Rande kommt und die Intentionen des Komponisten nicht versteht, dann sollte man zumindest einen kurzweiligen Abend mit nach Hause nehmen. Auch wenn einen "des Gedankens Blässe angekränkelt hat", vielleicht wurden die eigenen Emotionen angesprochen, vielleicht konnte man über dem Schicksal des ermordeten Kindes eine Träne verlieren, nachdenklich werden, vielleicht konnte man sich ganz einfach an der gehörten Musik erfreuen, vielleicht erinnerte man sich an eine raffiniert gelöste szenische Umsetzung. So habe ich beispielsweise die ersten Takte richtig genossen. Das kleine Orchester, die Leichtigkeit mit der sich plötzlich Wagner's "Tristan" wie im Tonfall einer Kurkapelle in schlanker und trotzdem inniger Anteilnahme manifestierte, hatte etwas für sich. Freilich, dabei dachte man intensiv an Wagner und nicht an Everhartz - und das sollte auch so bleiben. Die musikalische Aufmerksamkeit wurde immer dort gewonnen, wo ein Tristan-Motiv sich in den Vordergrund drängte, wo man meinte, die eben gehörten Takte an der betreffenden "Tristan-Szene" festmachen zu können. Natürlich registrierte man die Veränderungen, die Everhartz vorgenommen hatte, aber diese gewannen kein Eigenleben, konnten sich gegen die Permanenz und Verankertheit der Wagner'scher Melodie nicht durchsetzen. Ich bin mir sicher, dass das in dieser Form nicht beabsichtigt war und dass hier auch sehr subjektive Kriterien ins Spiel kommen. In Summe aber gewann Wagner - je mehr er auch verfremdet wurde, umso mehr an Oberhand, weil man sich gerade dann wieder an seiner Motivik festkrallte und alles zum "Tristan" in Bezug setzte - und nicht zum "Kommissar". Und so scheint es, als hätte diese Idee einer "parasitären Oper" (so Everhartz im Programmheft) gerade den gegenteiligen Effekt: dass es einen nämlich nachher dazu drängt, sich einen "Tristan" anzuhören - während man nicht das Bedürfnis spürt, noch einmal einer Vorstellung des "Kommissar" beizuwohnen.
Möglicherweise hat dazu aber noch etwas anderes beigetragen. Hier muss vorausgeschickt werden, dass man sich für die szenische Umsetzung eine interessante Raumaufteilung hat einfallen lassen. Die Verhältnisse wurden gewissermaßen "umgekehrt". Das Publikum wurde vor und auf die eigentliche Bühne verbannt, der ganze große Saal des Steinhoftheaters wurde als Spielfläche genützt und das Orchester war, abgetrennt von einer Reihe locker aufgestellter Fichtenbäumchen (=der Wald), an der anderen Raumseite platziert. So sehr diese Anordnung das Auge erfreute, weil es eine neue, ungewohnte, wirklich große Bühne und eine Raumdimension schuf, die sonst in der herkömmlichen "Guckkasten"-Anordnung nicht gegeben ist, so "entfremdet" war einem doch das Orchester, dem dadurch viel an "Unmittelbarkeit" abhanden kam und dass sich klanglich nicht so intensiv präsentieren konnte. Was sich zuerst als "Kurorchester" frisch und angenehm machte, trat mit der Zeit immer mehr in den Hintergrund und wandelte sich in eine farblose Wandtapete wie ein Stück aufgemalten grauen Himmels.
Als "Kulissen" dienten neben den geradlinig raumteiligen Fichtenbäumchen in die Spielfläche des Saales geschobene Requisiten: die Arbeitstische der Beamten und des Kommissars, drei Stühle für die zu vernehmenden Personen, das zuerst als Aktenschrank "maskierte" Kasperltheater. Dabei gab es manch witziges Detail zu bemerken (nicht nur, dass man in der Pause gewissermaßen in den Kulissen herumflanieren konnte und schauen, was für Bücher die Beamten in der Schublade liegen haben: es waren Gustav Freytag's Gesammelte Werke!). Während dieses Bühnenbild die eigentliche "Kriminalhandlung" stützte, mussten einem die "esoterischen" Exkurse der Protagonisten umso befremdlicher vorkommen - auch wenn hier das Kasperltheater in Position rollte und sehr frei nacherzählte, was dem Kind mit dem gerade vernommenen Verdächtigen wirklich (oder nicht wirklich) geschehen war. Kasperl ließ auch immer ein rotes Lichtlein an seinem Gewand aufleuchten, das war richtig tröstlich.
Während sich die Erwachsenen geistigen Höhenflügen hingaben, hatte das "tote Kind", verkörpert durch ein etwa sechs Jahre altes Mädchen, mit roter Wollhaube bemützt, die undankbare Aufgabe, die meiste Zeit still zu sitzen und sich von den Scheinwerfern anstrahlen zu lassen - beim Gesangspart wurde es "gedoubelt". (Naja, immerhin durfte es das Kasperltheater auf die Bühne winken und dann den kurzen Szenen zuschauen. Und am Schluss musste es sich vom Kommissar - wirklich sehr dezent dargestellt - erwürgen lassen.) Über die Funktion dieser "quasi lebendigen Präsenz" des "toten Kindes" lassen sich nur wieder Mutmaßungen anstellen. Folgt man dem Text im Libretto, dann hat es fast was "apokalyptisches" an sich: "Ich prophezeie dir Steinschlag und Hagel / Termiten, Fluten und Wanderheuschrecken...". Aber ich weiß nicht, ob das noch viel zum Werkverständnis beiträgt, wenn man dabei ins Allegorisieren kommt... Frappierend war jedenfalls, wie wenig einen die ganze Sache emotional berührte.
Bei solchen Produktionen gebührt allen Beteiligten Dank, weil sie sich mit Enthusiasmus eingesetzt und viel Zeit geopfert haben. Das war auch am Ende der Vorstellung zu spüren, wobei das Publikum mehr im Sinn einer großen Familie agierte (es gab Plätze für rund 150 Personen), und ein älterer Herr mit Blumen in der Hand die Anwesenden zu "Kristine"-Sprechchören ermuntern wollte.