Splitter aus der Geschichte des Kleinen
Nur eine Nebenbemerkung bei diesen Kurzgedichten! Die Griechen sind weit reicher an Schmerzrufen, diese Miniatur-Elegien, als wir Neuern, gleichsam zum Zeichen ihrer tragischen Meisterschaft. Die Ausrufungen der Franzosen sind meistens kürzer als unsere: ah (wir: ach!) - fi (wir: pfui, die Kurzsatire) - aie (au weh!) - parbleu (potztausend!) - hélas (leider!); wieder ein Beispiel, daß sie sogar in diesen kleinsten Kunstwerken nicht so unendlich weit und breit sind wie wir in allen. Jean Paul
Das Kleine als Phänomen und Methode der Verdichtung ist die heimliche Konstante in den Brüchen und Ironisierungen der Ironie von der Moderne zur Postmoderne. Noch im Mittelalter den Menschen vollkommen unbekannte Größe entsteht die spezifisch romantische Weltbetrachtung des Kleinen im Sog der Leidenschaft am Pathos und am Erhabenen als dessen Nacht- und Schattenseite, in den neuen künstlerischen Formen des Fragments, der Bagatelle, der Abbreviatur, überhaupt des Momentes der Pointe.
Der Vormoderne begegnet das Kleine ausschließlich in den Bedeutungen des Noch-nicht-Erwachsenen, des Unbedeutenden, des Kindlich-Reinen und Naiven, das sich im Englischen clean noch bewahrt hat, ohne jeden Unterschied in der Benennung einer Raum- oder Zeitdimension, gar einer spezifischen Wirklichkeitserfahrung durch die Sprache.
Auch die Miniatur - ausschließlich als Handwerkskunst der Buchillustratoren aus Inkunabeln bekannt - ist vor dem 17. Jahrhundert noch kein kleiner Mikrokosmos, sondern - ihrer Wortbedeutung zufolge - nur das "mit Zinnoberrot Angemalte" (Mennige = Bleirot; lat. minium= Zinnober). Allein der Überlieferung handschriftlicher, zinnoberrot verzierter Maiuskeln mittelalterlicher Provenienz verdankt sich die Übertragung der Miniatur auf den eigenständigen Pathos der romantisch-ironischen Entdeckung des Kleinen als gewollte Zersplitterung der Welt, wobei die Splitter sich zu einem neuen Welttheater zusammensetzen zu vermögen. Den ersten Miniaturstaat gibt es 1767, das erste Miniaturtal 1795, ein Miniatureuropa 1822, das erste Miniaturbäumchen gar erst 1895.
Das Trauma des Verlustes des Universellen, das erst gegen Ende des romantischen Zeitalters zu vollem Bewußtsein kommt und schließlich dessen Ende bedeuten wird, bewirkt einerseits die Leidenschaft am Maßstab des Erhabenen, natürlich aber auch dessen Verkehrung in die Notwendigkeit des Zufalls: Abkehr von aller Immanenz:
In unserm Gemüt ist alles auf die eigenste, gefälligste und lebendigste Weise verknüpft. Die fremdesten Dinge kommen durch einen Ort, eine Zeit, eine seltsame Ähnlichkeit, einen Irrtum, irgendeinen Zufall zusammen. So entstehn wunderliche Einheiten und eigentümliche Verknüpfungen - und eins erinnert an alles - wird das Zeichen vieler und wird selbst von vielen bezeichnet und herbeigerufen. Verstand und Phantasie werden durch Zeit und Raum auf das sonderbarste vereinigt, und man kann sagen, daß jeder Gedanke, jede Erscheinung unsers Gemüts das individuellste Glied eines durchaus eigentümlichen Ganzen ist. Novalis
Das Theater, sowohl das Sprech- als auch das Musiktheater - entdeckt die Kleinheit als eigene Kunstform im 19. Jahrhundert. Hier entstehen plötzlich Kurzopern und Minidramen in bewußter Absetzung zur zeitgleich entstehenden Großform, der Witz entwickelt sich zur literarischen Gattung, das Biedermeier verlagert überhaupt die Welt der großen Natur in das kleine Heim. Schatten der Sinfonie der Natur wird die Bagatelle für das Klavier, einzelne Töne, die bislang keinem Anspruch auf Kunstfertigkeit standhalten konnten, sind nunmehr Freudentränen der Seele (R. Schumann). Allem Kleinen wird natürlich Größtes abverlangt: das Verschwinden der Welt kann nur durch eine Kunstminiatur aufgehalten werden:
Wenn wir ein glückliches Dasein durchlebt haben / und nur die Erinnerung allein noch davon übrig ist / so möchten wir gern wenigstens das Schattenbild / der entfernten Wirklichkeit an etwas Bleibendes / heften und durch ein ET IN ARCADIA EGO den / Freunden, mit denen wir so gute Zeiten verlebten / unser Andenken lebendig erhalten. Carl Ludwig Fernow
Fernows Miniatur enthält in nuce alles Notwendige für eine Kunst, die dem prüfenden Blick seiner klassizistischen Ästhetik standhält. Nicht die Wirklichkeiten und ihre flüchtigen Schattenbilder konstituieren das Kunstwerk, sondern das Bleibende, an dem sie zum Stillstand kommen. Bleibendes entsteht erst, wenn die Gegenstände entfernt, entschwunden, vergangen sind. Ins Bild gebracht wird dies innerhalb der ikonographischen Tradition, auf die Fernow mit der Wendung ET IN ARCADIA EGO anspielt. Harald Tausch
Noch größer wird der Anspruch dem Kleinen gegenüber nach dem Kollaps des Großen, dem Beginn der Postmoderne. Das Kleine speist Die gesamte Kunst, alle Manifeste des Absurden, des Surrealismus oder Dadaismus erobern sich ihren Miniaturstaat oder gerieren sich überhaupt mikrologisch. Der Rückzug zur von außen betrachtbaren Form, die Entkleidung des Bühnenwerks von allem Überflüssigen, das Ersetzen der Kategorie der Handlung durch die des Skurrilen, der Situation - Beckett - scheinen die neue Wahrheit des Theaters zu garantieren. Die Neue Wahrheit scheint sich zunächst auch in der Entmoralisierung der Theateranstalten zu manifestieren, die damit ja auch dem Leben rückgewonnen worden sind. Seltsamer Rückzug in die Häuslichkeit, der das schon ausgeleerte Innere neu mit Äußerstem zu füllen vermag. Spielerische Destruktionen sind einzig verbleibende Konstruktionen des Visionären: im Sinn einer Partizipation daran:
Der kritische Gehalt der Gedanken wird dementiert vom Gestus des sich Verbreitens, der von staatserhaltenden Professoren her vertraut ist, und die Ironie, mit der der Schauspieler Voltaire die Zugehörigkeit zur Académie Francaise eingesteht, schlägt auf den Witzigen zurück. In seinem Vortrag versteckt sich bei aller pointierten Humanität ein Gewaltsames: man kann es sich leisten, so zu reden, weil keiner den Meister unterbricht...Ahnung der Unmöglichkeit, Gedachtes ohne Arroganz, ohne Frevel an der Zeit des anderen zu sagen. Es ist das dringendste Anliegen einer Darstellungsweise, die im mindesten standhalten soll, daß sie solche Erfahrungen nicht aus den Augen läßt, sondern sie durch Tempo, Gedrängtheit, Dichte und doch wiederum Unverbindlichkeit selber zum Ausdruck bringt. Theodor W. Adorno
Die Wirklichkeit folgt schließlich der Kunsterfahrung: Christian Wulf beschreibt die Illusionsfabrik des miniaturverliebten Euro-Disneylands als Mikrokosmos ohne Riesenkrisen oder Weltkatastrophen als präformierten Sinnvergeber entsexualisierten Glückes, Baudrillard betrachtet in einer sich miniaturisierenden Welt kybernetischer Simulationen die Gefahr der Loslösung der Technik von irgendmöglicher sinnlicher Erfahrung: Aufspaltung der Körperfunktionen in pure Kontroll- und kompensatorische Spielgesten anstelle der ständigen Bewegungsreflektorik des romantischen Subjektes, das vor seiner Größe klein werden mußte, um seine Autonomie zu wahren.
War einmal ein Bumerang; War ein weniges zu lang.
Bumerang flog ein Stück, Aber kam nicht mehr zurück.
Publikum - noch stundenlang - Wartete auf Bumerang. Joachim Ringelnatz