Oper für 12 Flügel und 1 Krokodil
Im Krokodil
Iwan Matwejewitsch landet aus Unachtsamkeit im Bauch eines Krokodils - und in Folge stellt sich heraus, dass es aus ökonomischen Gründen unmöglich ist, ihn daraus wieder zu befreien. Dostojewskijs frühe Kapitalismuskritik ist eine absurde Irrfahrt in den ganz normalen Wahnsinn. Die vernünftelnde Logik des Geldes wird in dieser skurrilen Geschichte ebenso aufs Korn genommen wie die lähmende Umständlichkeit von Politik und Bürokratie. Der Berliner Komponist Jury Everhartz hat daraus eine Oper für 12 Pianisten gemacht, die nun vom sirene Operntheater im Wiener Jugendstiltheater unter der Leitung des Mailänder Pianisten und Dirigenten Marino Formenti zur Uraufführung gebracht wird.
Im Erzählfragment "Das Krokodil" von 1865 verarbeitet Fjodor M. Dostojewskij nach einer mehrjährigen Reise durch Europa die "materialistische Seelenlosigkeit", die er dort vorfand. Das Krokodil nimmt sowohl die bürokratische Denkweise, die sich vom unmittelbaren Leben so absurd entfernt hat, aufs Korn, als auch die aus Europa nach Russland dringende rationalistische Ökonomieidee. Daß der Besitzer des Krokodils, der sich weigert, sein Kapital eines Menschenlebens wegen zu opfern, ein Deutscher ist, ist kein Zufall. Dostojewskij war zwar einerseits ein leidenschaftlicher Gegner von Europa und insbesondere Deutschlands, vor allem aber ließ sich darin die russische Unterwürfigkeit vor aus Europa importierten Ideen darstellen: das "ökonomische Prinzip", von dem die Rede ist, meint den Ursprung des Kapitalismus aus der Aufklärung und seiner Begleitwissenschaften in Büchern wie Mandevilles "Bienenfabel" (1724), J.O. de la Mettrie´s "L´homme maschine", Jeremy Benthams "Principles of Morals and Legislation" (1780) und "Utilitarismus" von der "Benthamschen Denkmaschine" John Stuart Mill. Diese urkapitalistischen Ideen verknüpften sich in der russischen Beamtenschicht mit den harten feudalistischen Strukturen, der Leibeigenschaft und der tiefreligiösen Anlage zu einem absurden Konglomerat von Missachtung des Menschenlebens. Begeistert wird vertreten, was den Untergang verursacht.
Aus Gogols Mantel
"Wir sind allesamt aus Gogols Mantel hervorgeschlüpft." Damit beschreibt Dostojewski seine Generation unter Gogols Einfluss. Wie Gogols "Nase" (1835) wird "Das Krokodil" (1865) einerseits von der Tradition phantastischer russischer Sagen getragen, zum anderen vom Hang zum Phantastischen in der europäischen Romantik. Und wie in Gogols "Mantel" der Mantel ein Katalysator der menschlichen Beziehungen wird, ist auch das Krokodil, das Iwan verschluckt und sein Leben wendet, nur eine Versuchsanordnung, die Struktur der Beziehungen und der bürgerlichen Gesellschaft unter Druck zu beobachten. Dabei muss man zum Schluss kommen, dass das Krokodil weit weniger gefährlich ist als die Gesellschaft. Iwans Vorgesetzter lässt seinen Beamten sofort wie eine heisse Kartoffel fallen, seine Frau nimmt seine Lage als Vorwand, ihn (endlich) zu verlassen, der Krokodilsbesitzer denkt mit Freuden an die geschäftlichen Vorteile, die ihm Iwans Nachteile verschaffen und die Presse nützt das Ereignis für ihre Propagandazwecke. Sigismund von Radecki konstatiert den russischen Blick: "Dabei wird "die Welt" nicht als böse hingestellt, sondern gerade wie sie ist: lauwarm, halb böse, halb gutmütig, halb gleichgültig, es ist recht eigentlich eine Scheinwelt…" Das Gefährliche hat keine Zähne, sondern besteht in der Hingabe an das Faktische, in dieser lauen, durchaus modernen Haltung, sich mit den Übeln gemütlich einzurichten - da man eine schlechte Situation aus diesem und jenem praktischen Grund, aus Faulheit oder Mangel an Phantasie tolerieren müsse, könne man ja gleich versuchen, davon zu profitieren. Dieser Zynismus ist in Dostojewskis "Krokodil" aber ins Lächerliche gemässigt.
Jorge Luis Borges schreibt dazu: "Das bürokratische und hierachische Rußland, das uns Dostojewskijs Werke vorführen, ist wohl nicht allzu verschieden von dem unserer Tage. Die kleinliche Bürokratie ist, satirisch überhöht, das Hauptthema der unvollendetetn Phantasie vom Krokodil. Die Atmosphäre ist die des Traumes, der schon fast in den Alptraum umschlägt. Aber dank dem humoristischen Ton und der albernen Trivialität der Hauptpersonen versinkt er nicht in dessen Abgründen. Der Leser mutmasst, daß Dostojewskij nicht mehr wußte, wie er aus dem Krokodil wieder herauskommen sollte - das würde erklären, warum diese Erzählung keinen Abschluß findet…"
Im Kindergarten des Kapitalismus
Wenn man heute, 140 Jahre später, den fortschreitenden Erfolg gerade dieser aus “dem Westen” importierten Idee - einer liberalistischen, deterministischen Ökonomie, die ein trauriges Abfallprodukt der Aufklärung ist, betrachtet, müsste Dostojewski das Krokodil auf diese Weise fertigschreiben, dass Iwan Matwejewitschs Verblendung sich ausbreitet und alle bereit sind und sogar bemüht darum kämpfen, ins Krokodil einzuziehen und sich einen guten Platz in seinem unersättlichen Magen zu sichern. Denn der neoliberalistische Kapitalismus ist heute nicht mehr eine unter vielen Ideen, aus denen man wählen könnte, sondern praktisch die einzige, die - im Zeitalter des Kleinkindes - zur Auswahl übrig geblieben ist.