Österreichische Musikzeitschrift, 8-9 2008, Sabine Seuss
Das Tagebuch der Anne Frank ist eines der bedeutendsten Denkmäler, das auf die Unsagbarkeit des Holocaust hinweist. Indem es die "Vorgeschichte" von Deportation und Vernichtung thematisiert, noch dazu dargestellt aus der Perspektive eines jungen Mädchens, übersteigt es - Simon Wiesenthal folgend - "nicht in dem Maß unsere Vorstellungskraft wie etwa der Bericht eines Häftlings, der Auschwitz durchlitten hat."
Aus diesem historischen Dokument hat der sowjetische Komponist Grigori Frid (*1915) 20 Episoden unter der Eigenvorgabe "kein Wort am Text zu ändern" ausgewählt und musikalisch in Szene gesetzt. Bereits 1969 entstand die erste Partitur für Klavier und Gesang, 1972 wurde die Orchesterfassung uraufgeführt und 1999 die Monooper für neun Soloinstrumente bearbeitet.
Nach einem Vorspiel folgt die erste Episode mit dem 13. Geburtstag von Anne Frank, zu dem sie das geliebte Tagebuch erhält und der noch vor der Zeit des Versteckens liegt. Im Juni 1942 schließlich wird es zu gefährlich und die Familie Frank zieht sich in das Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht 263 zurück. In der Aufführung wird dieses Versteck durch einen Schrank symbolisiert, der auf eindrucksvolle Weise Enge verdeutlicht. Generell verzichtet die Inszenierung (Regie: Kristine Tornquist, Bühne: Jakob Scheid) darauf, sich in den Vordergrund zu spielen, und verdeutlicht meisterhaft mit einigen wenigen Einfällen die Beengtheit und Langeweile im Versteck sowie die Gefühle von Anne. Es folgen Episoden, die Verzweiflung, Einsamkeit, aber auch alltägliche Situationen wie Streitgespräche thematisieren. Dach lässt der Komponist seine Monooper nach der finalen Episode, in der Anne vom Dachboden aus den geliebten Kastanienbaum betrachtet und über Natur, Tapferkeit und Lebensfreude nachdenkt, genauso abrupt enden wie das Leben von Anne beendet wurde. Nach einem Verrat wird die Familie am 4.8.1944 entdeckt und von der Polizei abgeholt. Anne Frank starb im März 1945 in Bergen-Belsen.
In der aktuellen Aufführung im Jugendstiltheater wurde Anne Frank von Nina Maria Plangg dargestellt, die sowohl gesanglich als auch schauspielerisch beeindruckte. Ebenfalls überzeugen konnte das ensemble sirene (musikalische Leitung: Jury Everhartz), das die Musik von Frid mit einer breiten Ausdruckspalette umsetzte. Die Komposition selbst ist geprägt von einer expressiven Tonsprache, die streckenweise an Schostakowitsch gemahnt und auch jazzige oder Walzerelemente enthält.
Ein eindrucksvoller Abend, der lediglich durch eine leise Stimme im Hinterkopf getrübt wurde, die unablässig auf die Frage nach dem spezifischen Mehrwert der musikalischen Umsetzung beharrte: Was gewinnt dieser monumentale Text durch die Musik?