Zyklisches und anderes Erzählen
Beobachtungen zur Romanform in Leo Perutz’ Nachts unter der steinernen Brücke
In der orientalischen ebenso wie in der abendländischen Literatur begegnen wir wiederholt Erzählsituationen, die das Erzählen als einen Heilungsvorgang oder Aufschub gegen äußere Bedrängnis einsetzen. In Boccaccios Decamerone ist es die Pest, vor der die bessere Florentiner Gesellschaft flieht, um sich aus sicherer Distanz vor der Epidemie durch das Erzählen von Geschichten die Zeit zu vertreiben, in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewandeter lenkt sich die Gesellschaft durch das gegenseitige Geschichtenerzählen von den Ereignissen der Französischen Revolution ab und in den Geschichten aus 1001 Nacht geht es Scheherazade buchstäblich darum, durch das Erzählen am Leben zu bleiben.
In Leo Perutz’ Roman Nachts unter der steinernen Brücke gibt es ebenfalls eine Art rahmender Erzählsituation, die – nimmt man die Entstehungszeit des Zweiten Weltkriegs als historischen Hintergrund – das Erzählen als einen Akt des „Enttötens“ (Volker Klotz) inmitten des großen Tötens aufgreift. Der Autor begibt sich als eine Art Herausgeber oder Ich-Erzähler in die Erzähl-Obhut seines alten Hauslehrers Jakob Meisl, einem Nachfahren jenes Mordechai Meisl, um den eine Reihe der Geschichten in Perutz’ Roman kreisen. So kommt es zur Übermittlung der Geschichten aus der alten Zeit, Geschichten, die das „alte Prag“ beschwören, das Prag zur Zeit Rudolphs des Zweiten Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts und das Prag der Gründungsgeschichte der Judenstadt als politische, religiöse und wirtschaftliche Teilmacht. Der Roman von Perutz erzählt also nicht nur von Begebenheiten, sondern er erzählt auch über das Erzählen selbst, der Inhalt richtet sich also nicht nur auf ein Was, sondern auch auf ein Wie.Die erste dieser Geschichten erzählt auch von einer Pest-Epidemie. Es ist jene des Jahres 1589 in Prag und die Geschichte endet mit einer rätselhaften Sequenz, weil sie Unverbundenes kommentarlos aneinanderreiht: Nachdem der Rabbi Loew auf der Suche nach dem Ursprung der Pest schließlich nachts unter der steinernen Brücke den Rosmarinstrauch ausgerissen und fortgeworfen hat, heißt es in anaphorischer Steigerung über diese Nacht:
In dieser Nacht erlosch die Pest in den Gassen der Judenstadt.
In dieser Nacht starb in ihrem Haus auf dem Dreibrunnenplatz die schöne Esther, die Frau des Juden Meisl.
In dieser Nacht fuhr auf seiner Burg zu Prag der Kaiser des Römischen Reiches, Rudolf II., mit einem Schrei aus seinem Traum.
Man könnte darin die Größe dieses Romans sehen, dass er scheinbar Unzusammenhängendes aneinander reiht, und das Erzählen schließlich offenlegt, wie das Aneinandergereihte, zunächst noch verborgen, einer wunderbaren Ordnung unterliegt, nämlich der Ordnung der wunderbaren Erzählung. Erst im letzten Kapitel des Romans nämlich wird die Aneinandereihung, ja scheinbare Blindheit der Motive in ihrer sinnfälligen Gestalt offenbar. Hier, in der phantastischen Begegnung des Rabbi Loew mit dem jüdischen Racheengel Asael erfährt der Leser endlich den Zusammenhang zwischen der jüdischen Ehebrecherin Esther, dem saturnalischen Kaiser und dem geheimnisvollen Sträucherpaar aus Rosmarin und Rosen: Um dem unbedingten Wunsch des Kaisers nach dem Besitz der jungen Jüdin zu entsprechen, dabei aber das jüdische Ehegesetz nicht zu brechen, hatte der Rabbi zu einer zauberhaften List gegriffen: Er pflanzte zwei in sich verschlingende Sträucher, die den Zauber in sich trugen, Kaiser und Jüdin in den Glauben ihrer gemeinsamen Liebe zu versetzen, während sie diese aber in Wirklichkeit nur imaginär, nämlich in ihren Träumen, erfuhren.
Dass der Leser dieses Romans immer wieder das Erzählte in seinem Zusammenhang erfahren und dass er dabei erschließen muss, was ihn anfänglich rätselhaft bleibt, macht Perutz zu einem Autor, dem das Torbergsche Aperçu vom „unterhaltsamen Kafka“, weil zu glatt, sicher nicht gerecht wird. Vielmehr liegt darin eine merkwürdige Ambivalenz, nämlich einerseits eine versunkene archaische Welt zu erzählen und andererseits dabei so auf die Künstlichkeit und das handwerkliche Können zu verweisen, wie es der Literatur der Moderne, die auf ihr Handwerk zeigen muss, so eigen ist. Diese Ambivalenz legt die Vermutung nahe, dass der erzählerische Zugriff auf die versunkene Welt der jüdischen Kultur Prags im 20. Jahrhundert nicht naiv fabulierend, sondern nur mittels einer kalkulierten Strenge der Komposition erfolgen konnte. Sie führen zu der Schlussfolgerung, dass in der Form des Buches ein künstlerisches Bewusstsein steckt, in der die überlieferte und die reale Geschichte zugleich anwesend sind, die legendäre durch die Sujets, die reale, gegenwärtige durch die Virtuosität ihrer Verarbeitung.
Die legendenhaften Sujets und ihre künstlerische Verarbeitung lässt sich auch an der immer wieder zu beobachtenden Kreisstruktur des Erzählens beobachten, in der noch dazu eine subtile Verklammerung zwischen Individuum und schicksalhafter Macht erkennbar wird. In der Geschichte „Der entwendete Taler“ geht es darum, wie der Kaiser den Weg einer Goldmünze vom Erwerb bis zum Eintreffen beim wahren Geldvermehrer Meisl buchstäblich verfolgt. Keine noch so akribisch vorbereitete Verhinderung dieses Weges kann den Sog des Geldes aufhalten, in die Tasche des reichen Juden zu kommen, gemäß dem Kinderlied vom Taler, der wandern muss. Der individuelle Wille zählt in dieser Welt nur so viel, als er überwunden wird von einer kollektiven Schickung des Geldes, nämlich zum Geschick und Schicksal des Juden bestimmt zu sein. Als Leser solcher Geschichten sieht man eine Erzählkunst am Werk, wie Spannung in den Dienst eines Fatums gestellt wird, in welcher der Wille des Einzelnen nichts vermag gegenüber einer kollektiven Bestimmung.
Es wäre verfehlt, in dieser legendenhaften Form des Erzählens eine reine Rückwärtsbewegung und Nostalgie zu sehen, die Perutz aus dem Kanon modernen Erzählens ausschließt. Das Durchscheinen der Künstlichkeit von Perutz’ Erzählen verweist vielmehr auf eine Ambivalenz, die darin besteht, dass die Erzählung und die erzählte Welt durch die historische Distanz voneinander gelöst sind, ja dass ein Riss in dieser Distanz greifbar wird, der das Erzählen als Medium der Erinnerung umso evidenter erscheinen lässt.
So mag es ein Zeichen der Behauptung der Moderne sein, den Roman von Leo Perutz als Sammlung einzelner Kurzopern zu vertonen. Es wird damit schon rein äußerlich zum Ausdruck gebracht, was Nachts unter der steinernen Brücke nicht ist, nämlich ein Roman im klassischen Sinne, mit einer Fabel, mit der Entwicklung einer Figur, mit einer Erzählerposition, die der Form ihren organischen Rückhalt gibt. Wir finden keine individuelle Geschichte, sondern nur eine kollektive Geschichte, vorgeführt an einzelnen Exempeln und an Figuren, die Träger dieser Exempel sind: Der eine ein Mensch, dem das Geld nachläuft („Der entwendete Taler“), der andere ein Mensch, dem das Geld umgekehrt davon läuft („Das Gespräch der Hunde“), der dritte ein Mensch, den seine Verpflichtung gegenüber dem Repräsentanten der Macht in den Selbstmord treibt („Der vergessene Alchimist“), der vierte ein bäurischer Landadeliger, der den verfeinerten Städter mittels seiner eigenen Kultur, der Tanzkunst, bestraft („Die Sarabande“). Sie alle sind Typen, die sich einem Kollektiv nicht entziehen lassen, sondern aus diesem hervorgehen, eben so, wie sie in ihm wieder verschwinden.
Aus ihr resultiert eine Romanform, die an die Stelle der Entwicklungsgeschichte eines einzelnen Individuums die zyklische Form setzt. Dieser sind gleichberechtigte Akteure zugeordnet, sie bringt Offenheit zum Ausdruck und sie entwirft ein soziales Panorama mit stärker kollektiven als individuellen Zügen.
Somit ist die Gattungsfrage in dem Roman auch eine Aussage über die Geschichts-Position, die Perutz selbst formuliert. Es ist nicht Nostalgie, die Perutz in das alte Prag führt, auch keine Flucht in die Geschichte vor der Gegenwart, sondern es ist eher der Zweifel, ob in der modernen Welt die Illusion des Einzelnen und seine Fähigkeit, Geschichte zu machen und zu repräsentieren, noch weiter aufrecht zu erhalten ist. In der Hinwendung zu einer Zeit, in der er das Schicksal einer Gemeinschaft vor dem Einzelnen gestellt sah, öffnet Perutz einen Durchblick auf die eigene Zeit, in der das Kollektiv wiederum dominant geworden ist. Dass der Einzelne in dieser Geschichtsperspektive verschwunden ist, hat Perutz als Emigrant und Jude deutlich erkennen müssen. Ihm selbst verblieb die Einrichtung eines literarischen Gegenprogramms, nämlich mittels legendenartiger Geschichten eine autonome Position als Erzähler zu besetzen. Dem Akt des Erzählens kommt darin nicht nur eine Erinnerungs-, sondern auch eine Enttötungsfunktion zu, als Heilmittel, mitten in der Katastrophe einen Rest von Ordnung und Schönheit zu bewahren.