Attars Tod
Musik. Willi Spuller| Partitur
Text. Kristine Tornquist | Libretto
Der weise Attar. Johann Leutgeb
Der Mongole. Sven Dúa Hjörleifsson
Ein Gelehrter. Michael Schwendinger
Ein Handwerker. Ida Aldrian
Was ist ein Mensch wert? Auf dem freien Sklavenmarkt richtet sich der Wert eines Menschenlebens wie auf der Börse nach den Kriterien von Angebot und Nachfrage. Doch die Wertauffassungen sind unterschiedlich. Der Mongole verweist in seinen Ausrufungen schlicht auf den Gebrauchswert des alten Mannes. Nach Marx misst sich der Gebrauchswert an der Nützlichkeit. Der gefangene Alte ist für den Mongolen ein Gelegenheitsgeschäft, viel erwartet er sich nicht, denn er ist sozusagen abgenützt. Ein paar Jahre kann man kann ihn aber für niedere Dienste noch gebrauchen. Wer einen Teekocher, Türöffner, Aufpasser oder Briefboten braucht, ist also mit dem Kauf eines billigen alten Sklavens wie Attar bestens bedient.
Der Tauschwert der klassischen Wirtschaftstheorie setzt jedes Objekt in Relation zu allen anderen – alles ist gegeneinander austauschbar. Modernen Menschentauschhandel kann man in den Geiselfreikäufen beobachten. Interessant ist das vor allem für Händler. Wer Sklavenhandel im grösseren Stil betreiben wollte, würde aber nicht gerade auf diesen Alten setzen, sondern auf junge kräftige Arbeitssklaven, Sklaven zur Unterhaltung oder auf junge Frauen - die wurden im Alten Orient sogar aufwendig ausgebildet und kostbar ausgestattet, um hohe Preise zu erzielen. Intrinsische Bewertungsmethoden hingegen rechnen den Aufwand der Herstellung, die Investitionen und die damit neugewonnenen Eigenschaften des Objekts zum Wert zusammen. Ein alter Mann wäre dann sehr kostbar. Wieviel Erfahrung, Zeit und Energie ist durch ihn geflossen und hat sich in ihm verdichtet! Den Gelehrten führt das zu seinem hohen Angebot. Doch nicht nur das. Er erkennt noch einen weiteren Wert in Attar – den Seltenheitswert. Abgesehen vom Wert hohen Alters in einer Zeit niedriger Lebenserwartung, war dieser Alte der berühmteste Dichter Persiens zu seiner Zeit. Ein überdimensionaler Diamant des Geistes. Der Mongole, smarter Geschäftsmann, kapiert schnell, dass er den Preis hinaufsetzen muss.
In neoklassischer Wirtschaftstheorie ist der Wert eines Objekts durch den Preis, den es erzielen kann, bestimmt. Aus der Perspektive eines Diktators oder Generals kann der Wert eines Menschenleben verschwindend gering werden, wie man z.B. derzeit in Libyen sehen kann. Hingegen ist dem Einzelnen das eigene Leben meist alles wert. Die Frage „Geld oder Leben!“ ist rein rhetorisch. Doch Attars asketischer und mystischer Sufismus hebelt die schlichte Einschätzung seines Verkäufers und seiner Käufer aus. Er verlässt den Markt des Lebens mit all dem Bewerten, Handeln und Besitzen. Denn dem Sufi gilt als höchster Wert, sich selbst keinen Zahlenwert mehr zuzumessen, sondern sich in die liebende Einheit mit Gott aufzulösen. Keinen Wert zu haben entspricht dann dem höchsten Wert – der Unbezahlbarkeit. Abu Nasr as-Sarradsch (9.Jhdt) beschreibt das in aller Kürze: Sufismus bedeutet, nichts zu besitzen und von nichts besessen zu werden.
Die Parabel von Attars Tod ist zu schön, um wahr zu sein. Doch wie bei jedem Kunsterzeugnis kann man daran die Freiheit des Geistes bewundern, sich über die Bedingungen des Lebens zu erheben und einen darüber hinausreichenden Wert zu behaupten, zu erfinden, zu erkennen. Attars Grabstätte – ein acht-eckiges Mausoleum – ist Pilgerort für Tausende, die daran glauben, dass es unverhandelbare Werte gibt.
Der berühmte Sufi-Dichter Fariduddin Attar gerät in mongolische Gefangenschaft und soll als Sklave verkauft werden. Ein Gelehrter bietet 1000 Dinar für den weisen Attar, das hält Attar jedoch für den falschen Preis und der Mongole verkauft ihn nicht. Als aber ein Handwerker eine Kiste Bier für den alten Mann bietet, rät Attar dem Mongolen, ihn nun doch zu verkaufen, das wäre der richtige Preis. Der Mongole rast vor Zorn.
Fariduddin Attar (1136-1221 in Nischapur, Persien) war ein islamischer Mystiker und Sufi-Dichter während der mongolischen Invasion in Persien. Bevor er sich dem Schreiben und Predigen widmete, führte er eine Drogerie, deshalb wird er Attar, „der Drogist“, genannt. In Europa wurde er nie bekannt, im arabischen Raum hatte er aber auf Generationen von Dichtern grossen Einfluss. In seinen 114 Werken beschäftigte er sich mit dem Weg der Erleuchtung, das er aus eigener asketischer Anschauung als eine Fahrt durch höllisches Leiden beschrieb. Sein Schüler Dschalaleddin Rumi schreibt über ihn: Attar durchquerte die sieben Städte der Liebe, wir sind nur bis zur nächsten Strassenecke gekommen.
Willi Spuller über Attars Tod
Was mich persönlich schon beim ersten Lesen des Librettos von „Attars Tod“ fesselte, war die Weisheit, die die Geschichte in sich birgt und die zwischen den Zeilen steht. Weisheiten, die wir in jeder Kultur wieder finden, Aussagen, die der Weise Attar ebenso als Christ, als Jude, als Muslime oder als Buddhist machen hätte können. Ich sehe mich gerne als „Weltbürger“. Natürlich habe ich meine Wurzeln in einem kleinen Ort im Burgenland und bin mit der Kultur, mit den Gebräuchen meiner Heimat groß geworden. Jedoch faszinierte mich auch immer schon „das Fremde“ – vor allem das Gemeinsame zwischen den Fremden. Je mehr ich auf der Welt herumgereist bin, je mehr ich andere Länder, andere Menschen und Kulturen kennenlernen durfte, desto mehr verstand ich, dass wir wirklich alle aus dem gleichen Holz geschnitzt sind und dass sich die Weisheiten, die Geschichten und Märchen der verschiedenen Kulturen im Grunde sehr ähnlich sind – wenn nicht sogar identisch. Im Gegensätzlichen, im Unterschiedlichen liegt oft das Gemeinsame.