Wer war Scheherazade?
Scheherezade oder Schahrasad – die Erzählerin der „Tausendundeine Nacht“ begegnet uns unter verschiedenen Namen, je nachdem, ob die persische oder die arabische Namensform zugrunde liegt, ob eine französische, englische, deutsche oder wissenschaftliche Transkription gewählt wurde. Nennen wir sie der Einfachheit halber Schahrasad, mit ihrem arabischen Namen und in einer vereinfachten, speziell für die deutsche Leserschaft zugeschnittenen Umschrift.
Wer aber war Schahrasad? Arabische Literaturgeschichten des 9. Jahrhunderts nennen eine altpersische Königsfamilie mit einer Mutter namens Schahrasad, Schwester des Achämenidenkönigs Darius. Für deren Tochter Humani sei „Tausendundeine Nacht“ zum ersten Mal aufgeschrieben worden. Doch schon die frühesten arabischen Quellen zweifeln an der Glaubwürdigkeit dieser Erklärung und zitieren sie distanziert als Legende. Bis heute sind alle wissenschaftlichen Versuche, Schahrasad auf historische Vorbilder zurückzuführen, gescheitert. Vielmehr gilt Schahrasad als literarischer Topos. Sie ist der Prototyp der Erzählerin, ja die Inkarnation des Erzählens überhaupt, Erfinderin des Cliffhangers und Urmutter der Fernsehserie, zugleich achtzehn und zweitausend Jahre alt.
Etwa achtzehn Jahre zählt Schahrasad, als sie ihre „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ erfindet und damit von Nacht zu Nacht ihr Leben rettet. Schahriyar, der Sultan des „Inselreichs von Indien und China“ – für den ebenfalls keine historischen Vorbilder nachgewiesen werden können – hat geschworen, jede seiner Frauen am Morgen nach der Hochzeitsnacht zu töten. So will er Rache üben an allen Frauen der Welt, Rache für den Betrug, den ihm seine erste Ehefrau angetan hat. Schon hunderte Mädchen hat der grausame König auf dem Gewissen, als Schahrasad, die kluge Tochter seines Wesirs, sich freiwillig als Gemahlin für die gefürchtete Hochzeitsnacht zur Verfügung stellt.
Doch sie vergisst nicht, ihre Schwester Dinarasad mit in das Brautgemach zu nehmen. Und am Abend nach der Hochzeit, bevor das Brautpaar sich schlafen legt, verlangt Dinarasad von ihrer Schwester eine Geschichte zu hören… Als die Nacht schon fortgeschritten war, erwachte Dinarasad, wartete geduldig, bis der König seine Lust an ihrer Schwester gestillt hatte und alle wach lagen. Dann räusperte sich Dinarasad. „Ach, Schwester“, sagte sie mit einem Seufzer, „wenn du nicht schläfst, so erzähle uns doch eine deiner schönen Geschichten, damit wir uns unsere Nacht damit vertreiben können und ich dir dann noch vor dem Tagesanbruch Lebewohl sagen kann. Denn ich weiß nicht, was morgen mit dir geschehen wird.“ - „Erlaubst du, dass ich erzähle?“ fragte Schahrasad den König Schahriyar. „Einverstanden“, sagte der. Und Schahrasad freute sich und sagte: „Dann höre zu.“
Tausendundeine Nacht
Die ältesten Motive der Rahmengeschichte von „Tausendundeine Nacht“ sind fast zweitausend Jahre alt. Sie wanderten durch die indische und persische Literatur, bevor sie um das Jahr 800 ins Arabische übersetzt wurden. Die zauberhafte Rahmengeschichte wirkte wie ein Geschichtenmagnet. Sie zog hunderte von Geschichten aus unterschiedlichen Zeiten, Orten und Literatursorten an. Die einzige Bedingung für die Aufnahme in „Tausendund-eine Nacht“ war: Eine Geschichte musste „spannend und aufregend“sein, eben spannend genug, um die Neugier des Sultans wach und Schahrasad am Leben zu erhalten.
Viele Geschichten erfüllten diese Bedingung: klassische Liebesromanzen, Kriminalgeschichten aus Ägypten oder dem Irak, historische Erzählungen um den Kalifen Harun ar-Raschid, phantastische Abenteuer mit Dschinnen und Zauberschlössern oder tief unten im Meer, sowie Schelmenstücke, die den Vergleich mit Till Eulenspiegel nicht zu scheuen brauchen. So entstand im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte ein buntes Sammelsurium arabischer Unterhaltungsliteratur, eine charakteristische Kombination aus schlichter Erzählsprache, eleganten Reimprosapassagen und kunstvoll komponierten Gedichten im klassisch arabischen Reim und Metrum. Gesammelt wurde „Tausendundeine Nacht“ immer anonym, und das ist auch ein Grund dafür, dass das Werk – im Gegensatz zu anderen Werken renommierter Sammler – in den unteren Fächern der Bücherregale verschwand, missachtet, teilweise sogar verboten wurde. Erst der europäische Orient-Boom des 18. und 19. Jahrhunderts hob das Werk wieder auf die Bühne auch der arabischen Welt.
„Tausendundeine Nacht“ war in Europa eines der bekanntesten Bücher überhaupt, sein Einfluß auf Literatur und Geistesleben war enorm und vielleicht nur noch mit dem der Bibel zu vergleichen. Der Anlaß dafür lag damals schon mehr als 150 Jahre zurück: Im Jahre 1704 hatte der französische Orientalist Antoine Galland (1646-1715) den ersten Band seiner „Mille et une Nuits“ veröffentlicht. Es war die Übersetzung einer bereits damals etwa dreihundert Jahre alten arabischen Handschrift, die er in Aleppo (Syrien) erworben hatte. Die drei Bände enthalten die Rahmengeschichte sowie die Nächte 1 bis 282 von „Tausendundeiner Nacht“. Der Rest der Handschrift, also etwa drei Viertel des Gesamttextes, ist verloren und konnte trotz intensiver Suche bis heute nicht aufgefunden werden.
Galland, der Übersetzer, fand seinen eigenen Weg, zu einer vollständigen französischen Fassung zu kommen. Er wich auf andere, von „Tausendundeine Nacht“ unabhängige arabische Handschriften aus. Deren bekannteste ist „Sindbad der Seefahrer“. Als auch diese Quellen erschöpft waren, ließ er sich weitere Geschichten in die Feder erzählen. Dem syrischen Christen Hanna Diab, der zwischen März und Oktober 1709 in Paris für Galland arbeitete, verdanken wir u.a. „Aladdin und die Wunderlampe“ und „Ali Baba und die vierzig Räuber“. Die französischen Mille et une Nuits feierten Riesenerfolge und wurden sofort in andere europäische Sprachen weiterübersetzt. Sie haben alle Bereiche der europäischen Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts entscheidend geprägt – auch Goethe kannte Gallands Version. Und der Umweg Europa führte letztendlich zu einer Aufwer-tung von „Tausendundeine Nacht“ auch in der arabischen Welt. Seit etwa 1930 hat die – damals noch in ihren Kinderschuhen befindliche – moderne arabische Literatur, und in ihrer Folge die arabische Musik, später auch das Kino und die bildende Kunst, das Werk als Glanzstück der arabischen Literatur und als Anker für die eigene kulturelle Identität wiederentdeckt und wiederbelebt.
Schahrasad in der arabischen Musik
Kairo, im Jahre 1969. Es ist Donnerstag Abend. Die Straßen der ägyptischen Hauptstadt sind leergefegt. Hunderttausende Hörer in der ganzen arabischen Welt, von Marokko bis in den Irak, sitzen gespannt vor den Radiogeräten. Wie jeden Donnerstag Abend wird der „Stern des Orients“, wie die Sängerin Umm Kulthum (ca. 1904-1975) ehrfürchtig genannt wird, ein neues, abendfüllendes Lied präsentieren. Heute ist es „Alf Layla wa-Layla - Tausendundeine Nacht“, eines ihrer berühmtesten Lieder. Sein instrumentales Einleitungsmotiv des ägyptischen Komponisten Baligh Hamdi (1932-1993) wurde zum bekanntesten arabischen „Tausendund-eine-Nacht“-Motiv. Neben Umm Kulthum haben sich viele andere bedeutende Sänger und Komponisten auf „Tausendundeine Nacht“ bezogen, etwa die Libanesin Fairuz (geb. 1935) oder der Ägypter Muhammad Abdalwahhab (ca. 1901-1991).
Ihre Texte nehmen allerdings auf die Inhalte der „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ kaum Bezug, sondern umspielen vielmehr das Geheimnis der Rahmengeschichte von Schahriyar und Schahrasad: die Faszination des Erzählens, das Wachhalten der Neugier des Sultans, aber auch Exotik und Erotik, die mit dem Werk von Anfang an unlösbar verbunden waren. Text und Musik stehen dabei in einem ganz besonderen, für die arabische Musik charakteristischen Verhältnis. Seit den ersten methodischen Grundlegungen der arabischen Musik im Bagdad des 8. / 9. Jahrhunderts folgen Musiker und Musiktheoretiker drei charakteristischen Grundelementen. Diese sind: erstens das System der in Tetrachorde aufgegliederten Tongeschlechter –, zweitens die Einstimmigkeit – also die grundsätzliche Abwesenheit polyphoner Strukturen und harmonischer Funktionen im westlichen Sinne – und drittens die überragende Bedeutung des gesungenen Wortes und der Improvisation. Improvisation ist eine der Säulen der arabischen Musik. Sie beeinflusst auch die Melodieführung ganz wesentlich und führt zu einem Primat der Melodie über alle anderen Komponenten der arabischen Musik. Sprache und Musik sind in den arabischen Texten von Tausendundeine Nacht eng verbunden. Das zeigt sich insbesondere an den zahlreichen Gedichten, die Sprachmelodie und Rhythmus des Versmaßes unmittelbar an den Hörer herantragen:
Die Schönheit selbst sollte sich mit ihm vergleichen,
Da blickte die Schönheit beschämt auf die Knie.
Man fragte: „Hast du, liebe Schönheit, schon einmal…“
Sie sagte: „…solch einen gesehen? Noch nie!“