Wiener Zeitung - 05.01.2013, Lena Drazic
Gerade im Musiktheater, das seit einem Jahrhundert zwischen Aufbruch und Verkrustung hin- und hertaumelt, überzeugen oft solche Arbeiten am meisten, die sich selbst nicht so ernst nehmen. In den letzten zehn Jahren traf das auch auf die Produktionen von sirene Operntheater zu. Ein Schlüssel zum Erfolg der kleinen Kompanie liegt in den bescheidenen Ausmaßen der Werke, die oft schon in Bezeichnungen wie "Operelle", "Monodram" oder "Kammeroper" zum Ausdruck kommen. Dabei ist "MarieLuise", die jüngste Produktion mit Musik von Gernot Schedlberger, für eine Kammeroper umfangreich geraten. Dass die zwei Stunden einem nicht lang werden, ist zuallererst dem Libretto von Kristine Tornquist geschuldet: Seine Geschichte erzählt es konventionell, aber mit einer Gewitztheit, die der Thematik durch ironische Brechung ihre Schwere nimmt.
Und gewichtige Themen sind es fürwahr, die sich die Librettistin und Regisseurin da vorgenommen hat: Es geht um die Frage, ob es sich beim abendländischen Glauben an das Individuum womöglich um eine Schimäre handelt. Durchgespielt wird diese Problematik anhand der siamesischen Zwillinge Marie und Luise, die in die Politik gehen, um ihre Erfahrung vollkommener Einheit auch auf gesellschaftlicher Ebene zu verwirklichen. Bereits der Prolog macht klar, dass es sich um eine Versuchsanordnung handelt: Ein Mathematiker in weißem Kittel führt das Publikum in gegensätzliche Formen der Mathematik ein, jene des Zusammenzählens und jene des Teilens. Die Geschichte des quasi mythologischen Doppelwesens MarieLuise fungiert also als parabelhafte Illustration eines Gedankenexperiments mit offenem Ausgang.
In diesem Zusammenhang ist es auch stimmig, wenn uns in Figuren wie den Parteigranden Prof. Koloman Hirsch oder Dr. Otto Bock weniger Menschen aus Fleisch und Blut als vielmehr holzschnittartige Typen begegnen, unter deren Einwirkung sich das politische und persönliche Scheitern der Schwestern vollzieht.
Auf musikalischer Ebene wird die Symbiose des Paares durch zwei Mezzosopranstimmen verdeutlicht, die ihren Widerpart in den beiden Bassklarinetten des Instrumentalensembles finden. Dessen rhythmisch komplexe Polyphonie bleibt unter der Leitung des Komponisten eher für sich, als mit der gleichförmigen Melodik der Singstimmen zu kommunizieren, entfaltet aber doch ihren eigenen Reiz.
Gemeinsam mit der Story rechtfertigt sie den Weg ins Kabelwerk allemal.