Ein Brief an die Librettistin
Ein großes, reifes Stück Literatur. Klar und weit, hell und durchsichtig wie Glas. Einen riesenhaft weiten Bogen zieht sie kühn von Platon bis zum Spiegelgrund.
Es ist gleichzeitig zeitlos und ungeheuer heutig: Das ganze Leid der vielen Trennungen, die mühsame Vergeblichkeit der Versuche eines Neubeginns, die allesamt in neuen Gefängnissen münden, die Gier nach Sensationen und die interesselose Hohlheit der Öffentlichkeit, der Zynismus einer sinnentleerten Politik.
Die Verführung der Medizin durch ihre Möglichkeiten oder die Gier nach Superlativen gibt es (freundlich, dass es wenigstens der Anästhesist ist, der leise zu zweifeln scheint – wobei die ja in Wahrheit nicht immer so leise sind…), andererseits blitzt hier natürlich auch das Stereotyp auf, das darf so sein, ist durch die Geschichte legitimiert und auch durch die literarischen Assoziationen: sehr büchnerisch im Ton und Duktus kommt es mir vor - die Parallelen zum Woyzeck sind ja vielfältig, wenn auch hier die Marie gleich von der Wissenschaft selbst gemordet wird.
„Der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit.“ (Woyzeck beim Doktor)
Nun ist der Wunsch nach Freiheit, der die Trennung birgt, schon der eigentliche Mord.
„Trennen wollten wir uns? wähnten es gut und klug?
Da wir‘s taten, warum schröckte, wie Mord, die Tat?
Ach! Wir kennen uns wenig,
Denn es waltet ein Gott in uns.“
(Hölderlin, Abschied)
In solcherart gigantischen Themen gelingt es ihr Humor aufleuchten zu lassen und nicht nur in der Groteske. Viele feine Nuancen zeigen sich in den Dialogen, (hoffentlich bleibt all das in Verbindung mit der Musik am Ende sichtbar).
Recht selten kann ich mir beim Lesen von Bühnenstücken schon selbst einen Raum vorstellen, das fällt mir immer schwer - anders als bei Lyrik, sonderbar - aber hier sehr wohl.
Ach, und auch die Namen sind alle sehr speziell, öffnen Bedeutungsräume, (bei MarieLuise ist mir noch nicht ganz klar wohin, außer der Analogie zu Büchners Marie – Marie Louise von Österreich steht in keinem Zusammenhang, nicht wahr? Es sei denn jenem, von der Politik in ein ganz und gar entfremdetes Leben gezwungen zu werden).
Der große Schlußmonolog am Ende nun ist sehr schön in seiner kühlen Traurigkeit. Mutig.
Ich bin nicht ganz sicher, ob ich alles richtig verstehe und auch nicht, ob ich einverstanden bin mit der bitteren Konsequenz der Parabel, dass mit dem Selbstwerden notwendig Schuld und Zerstörung einhergehen muß, aber das ist ja eine ganz andere Frage.
Ein großes Stück.
Isabelle Gustorff, per mail am 06.07.2012