Oper in Wien, 25.11.2015, Dominik Troger
„Gilgamesch“ – „Sisifos“ – „Chodorkowski“: Der „Helden“-Zyklus vom sirene Operntheater ist in der russischen Gegenwart angekommen. Im Semperdepot ging der dritte Teil über die Bühne. Nachstehende Anmerkungen beziehen sich auf die fünfte und vorletzte Aufführung.
Was Chodorkowski mit Gilgamesch zu tun hat, diese Frage erschließt sich wohl nicht auf den ersten Blick. Wahrscheinlich lag diesem Werk-Zyklus die Absicht zugrunde, das Gefühl für verschiedene Ausformungen möglichen Heldentums quer durch die Geschichte zu schärfen. Aber es ist fraglich, ob Chodorkowski in 4000 Jahren dem Gedächtnis der Menschheit noch präsent sein wird. Gilgamesch und Sisifos haben diesbezüglich wahrscheinlich bessere Chancen.
Kristine Tornquist, die wieder das Libretto verfasst und die Oper inszeniert hat, und Komponist Periklis Liakakis, haben dafür gesorgt, dass solche „philosophischen Fragestellungen“ die Aufführung nicht beschwert haben. „Chodorkowski“ folgt dem Schicksal des russischen Oligarchen in der Zeitspanne von 1989 bis 2013 – und forscht ganz ohne „Metaphysik“ nach dem Wechselspiel von Wirtschaft und Staat, von Geld und Politik, von globalem Kapitalismus und dem Versuch, eine nationale und wirtschaftliche Identität zu bewahren. In diesem Rahmen werden zwei Menschen präsentiert, die nach Macht streben – und die die Politik für sich entdecken.
Tornquist lässt das Geschehen in vielen kleinen Szenen als Stationendrama ablaufen, das pointiert Meilensteine des Aufstiegs von Chodorkowski und von Putin beleuchtet. Chodorkowskis Schritte in der Persönlichkeitsentwicklung werden in Szenen mit seiner Mutter vertieft, die an ihren Buben glaubt, der schon als Kind immer der „Größte“ sein wollte. Putin wird als eher verschlossen gezeigt, als Mann, der bereits in der zweiten Szene der Oper eine für ihn offenbar entscheidende Frage stellt: „Was soll das russische Volk mit Freiheit anfangen? Es wird die Freiheit erst vergewaltigen und sie danach in Wodka ersäufen.“ Für ihn werden die politischen Ereignisse in Russland 1989/90 zum Erweckungserlebnis.
Mit den Figuren Iwan und Natascha spielen auch zwei Vertreter des russischen Volkes mit. Sie sitzen auf ihrem Sofa mit „russischem Stoffdekor“ und spiegeln mit Witz die gesellschaftlichen Verhältnisse. Iwan wird schließlich wegen Diebstahls eingesperrt – und Natascha prangert die allgegenwärtige Korruption an. Dass Iwan in der Zelle von Chodorkowski landet, dem inzwischen der Prozess gemacht wurde, verklammert das Normalbürger-Russland mit den „oberen Zehntausend“. Die Entlassung des Oligarchen aus der Haft wurde szenisch angedeutet – das Libretto aber vor der Entlassung Chodorkowskis im Dezember 2013 verfasst. In seinem Schlussstatement spricht dieser von „gleichem Recht“, „gleicher Hoffnung“ und „gleicher Aussicht“ für alle „Machtlosen“, „Schwächsten“ und „Ärmsten“.
Chodorkowski durchläuft im Rahmen der Handlung einen kleinen „Bildungsroman“, der auch Kritik an der Oligarchenwirtschaft mit einschließt. Ob der durch leidvolle Erfahrung gewonnene Humanismus Chodorkowskis nachhaltig ist und in eine politische Kraft umgemünzt werden kann, bleibt offen. An Putin zeigt sich mit dem Fortgang der Handlung die Einsamkeit des Mächtigen, dem Vertraute den Rücken frei halten. Die Selbstinszenierung als starker Mann hat zudem ein von der Öffentlichkeit gierig rezipiertes Eigenleben gewonnen: In der letzten Szene geht Putin auf Bärenjagd – mehr aus Pflicht denn aus Neigung.
Natürlich liegt es nahe, bei dieser Veroperung aktueller Weltpolitik an John Adams „Nixon in China“ zu denken, aber „Chodorkowski“ bäckt viel kleinere „Brötchen“. Die Darstellung des Verhältnisses des Oligarchen zum Politiker, die zugleich für unterschiedliche weltanschauliche Positionen steht, ist auf das wesentliche reduziert. Die Handlung verzichtet zudem auf das „Ausbreiten“ großer Emotionen. Eigentlich ist „Chodorkowski“ eine Art von „Politik-Revue“, die sechs Kapitel und 41 Szenen umfasst, und die konzeptionell irgendwo beim Musiktheater von Brecht und Weill andockt, aber ohne „Songs“ und eingängige Melodien.
Komponist Periklis Liakakis hat auf eine dichte Orchestrierung verzichtet. Der Schwerpunkt lag auf dem Text und den Gesangstimmen, die in ihrem Sprechgesang durchaus gefordert wurden. Die kammermusikalische Orchesterbegleitung (13 Musiker mit Bläserschwerpunkt) lieferte dazu eine vor allem bedrohliche Akzente setzende Untermalung. Sie wirkte ziemlich „skizzenhaft“, wie akustische Sprechblasen, die von den Gesangsstimmen mit Inhalt befüllt wurden. Außerdem hat die Aufführungssituation die Sänger bevorzugt, die knapp vor der bestens gefüllten Besuchertribüne positioniert waren, während das im Hintergrund des Saales platzierte kleine Orchester schwer an der Akustik litt. Sänger und Orchester ergaben derart kein homogenes Klangbild.
Die Szene war – wie immer beim sirene Operntheater – einfach, aber kreativ und pointiert gestaltet. Links Mutter Chodorkowski bei der Jause, rechts Iwan und Natascha auf ihrem Sofa, in der Mitte viel Platz für das politische Ränkespiel, in dem ein großes schwarzes „Ölfass“, aus dem goldenes Lametta quillt, schwer zu übersehen war. Aufgemischt wurde die Szene außerdem durch Fortuna, die ihre Gunst mal diesem, mal jenem zu Teil werden ließ und die Personen bei ihren Erstauftritten mit Namensschild ankündigte. Gespielt wurde in einer der Semper-Depot-Hallen – und nicht im kühlen Prospekthof.
Die Dirigentin Petra Giacalone trat zuerst mit Bärenmaske vor das Publikum, um selbige abzunehmen und mitzuteilen, dass der Sänger des Putin (Alexander Mayr) erkrankt sei, aber trotzdem singen werde. Mayr sang mit etwas trockenem Tenor, der auch in die „Counterlage“ wechseln muss. Clemens Kölbl gab den Gegenspieler mit hellem, wortbetont und intellektuell eingesetzten Bariton. Beide waren optisch den dargestellten Persönlichkeiten nicht unähnlich, wobei Chodorkowski besser getroffen wurde. Stimmlich sehr präsent und dem Bühnen-Putin einen starken Rückhalt gebend: Steven Scheschareg als Setschin. Das „Buffo“-Paar wurde von Sébastian Soulès und Lisa Rombach mit Humor gegeben. Wilhelm Spuller gab Bürgermeister Petuchow eine starke agitatorische Note, und forcierte die Stimme an ihre Grenzen wie ein Volkstribun. (Petuchow fällt einem Anschlag zum Opfer, von dem offenbar Jukos-Chodorkowski profitiert.) Ingrid Habermann war eine besorgte Chodorkowski-Mutter. Auch Gernot Heinrich als Newslin hinterließ einen guten Eindruck.
Die rund zweieinviertel Stunden Aufführungsdauer (mit Pause) sind ohne Leerlauf vergangen. Das Publikum spendete viel Applaus.
PS: Im interessant gestalteten Programmheft war dankenswerterweise wieder das Libretto abgedruckt.