Der Tagesanzeiger, Der Bund, 23.11.2015, Bernhard Odehnal
Auf dem Foto sind sie vereint. Wladimir Putin und Michail Chodorkowski, Russlands Präsident und sein heute im Schweizer Exil lebender Gegner. Die Gesichter sind auf die Eintrittskarten gedruckt, mit denen die Theaterbesucher den Saal betreten. Billeteure zerreissen die Karten, Präsident und Oligarch werden für immer getrennt. So beginnt die Oper «Chodorkowski» der kleinen, aber produktiven Wiener Theatergruppe sirene in der Akademie der bildenden Künste. Das Libretto und die Inszenierung stammen von der Mitgründerin der Gruppe, Kristine Tornquist; die atonale Musik hat der in Wien lebende Grieche Periklis Liakakis komponiert.
In 41 kurzen, dialogischen Szenen schildert Tornquist das Königsdrama um zwei Männer mit gewaltigem Ego sowie deren Kampf um Geld und Macht. Ihre Sympathie gehört in diesem Zweikampf eindeutig Chodorkowski, der sich im Laufe der zweistündigen Aufführung vom Raubtierkapitalisten zum Humanisten wandelt und beginnt, sein eigenes Tun zu reflektieren. Nur wenige Menschen lernten wirklich etwas Neues im Leben, sagte Tornquist in einem Radiointerview, bei Chodorkowski habe sie das beeindruckt. Putin aber beginnt das Stück als tollpatschiger KGB-Agent und beendet es als skrupelloser Virtuose auf der Klaviatur der Macht. «Politik muss das Geld kontrollieren, sonst kontrolliert Geld die Politik», singt Putin-Darsteller Alexander Mayr im Falsett.
Jahrelang hat sich Tornquist mit dem Machtkampf zwischen Oligarch und Präsident beschäftigt, den der Slawist Franz Kumpl im Programmheft als Fortsetzung des jahrhundertealten russischen Streits zwischen Slawophilen und Westlern beschreibt. So schafft sie das Kunststück, in knappen Dialogen und mit wenigen Requisiten die komplexe russische Zeitgeschichte von 1989 bis zu Chodorkowskis Verurteilung im Jahr 2005 anschaulich und kurzweilig darzustellen.
Als moralische Instanz im Stück fungiert Chodorkowskis Mutter. Das russische Volk wird durch das grotesk überzeichnete Arbeiterehepaar Iwan und Natascha verkörpert, das sich zuletzt von Kapitalismus und Demokratie ebenso betrogen fühlt wie von Putin. «Du bist schuld, das ist dein Land, du lässt die Polizei stehlen und die Richter lügen», schreit Natascha dem Präsidenten zu. Doch der hört sie nicht, und im Gefängnis stirbt gleichzeitig der nach falschen Vorwürfen verurteilte und schwer misshandelte Iwan – zu Füssen seines Mitgefangenen Chodorkowski. Die Szene beruht auf einem wahren Vorfall, Chodorkowski hat ihn in seinem Buch «Meine Mitgefangenen» geschildert.
Die Oper endet für Chodorkowski hinter Gittern und mit Putins Aufstieg zur absoluten Macht. Die Begnadigung des Oligarchen 2013 und seine Auswanderung in die Schweiz hat Tornquist nicht berücksichtigt. Sie habe kein Stück über einen lebenden Menschen schreiben wollen und nicht damit gerechnet, dass der Gefangene die Haft überlebe, sagte sie. Heute sei ihr dieser «Übergriff» peinlich und sie wolle sich bei Chodorkowski entschuldigen. Dem ist das Werk allerdings nicht unangenehm: Auf seiner Website findet man einen ausführlichen Bericht über die Probearbeiten.
Nach der Premiere in Wien, die mit viel Applaus für Inszenierung, Musik und Sänger endete, fielen sich die Hauptdarsteller in die Arme. Ein Happy End, das der Bühne vorbehalten bleibt. Im richtigen Leben setzt Chodorkowski seinen Kampf gegen Putin aus dem Ausland fort. Russland werde früher oder später ein demokratischer Staat, prophezeite er bei seinem bisher letzten öffentlichen Auftritt vergangene Woche in London: «Aber dafür braucht es Menschen, die dafür kämpfen wollen, trotz aller persönlichen Risiken.»