Zwei Forscher als Kämpfer für den Frieden
Die Wissenschaft und das Militär gingen im 20. Jahrhundert enge Beziehungen ein. Gegen den Krieg stellten sich nur wenige Forscher – wie der Biologe Paul Kammerer (1880–1926) und der Physiker Hans Thirring (1888–1976), zwei der bedeutendsten Pazifisten der Universität Wien im 20. Jahrhundert. Ihren Karrieren war dieses Engagement wenig zuträglich.
„Wissen ist Friede“. Diese drei Worte prangten am Sonntag, dem 25. September 1904, auf der Titelseite der Tageszeitung Neues Wiener Journal. Im großen Artikel darunter wurde von einem wissenschaftlichen Kongress in St. Louis berichtet, wo in jenem Jahr die Weltausstellung stattfand. Im Text hieß es unter anderem:
„Ein solches Friedens- und Culturcentrum zugleich – Friede und Cultur unter den Völkern sollten eigentlich identische Begriffe sein – bildet die Wissenschaft“, zumal diese frei sei „von den Fesseln der Nationalität und der herrschenden Machtfactoren“. Zumindest gelte dies „von ihren vorzüglichsten Vertretern“.
Ziemlich genau zehn Jahre später war es mit dem Frieden vorbei, und prompt ließen sich viele der hervorragendsten Vertreter der deutschsprachigen Wissenschaft von der Kriegseuphorie anstecken. Anfang Oktober 1914 unterzeichneten 93 deutsche Künstler und Gelehrte einen „Aufruf an die Kulturwelt“, der den Krieg als Verteidigungskampf deutscher Kultur rechtfertigte. Wenige Tage später stellten sich nicht weniger als 3000 Hochschullehrer mit einer Erklärung hinter diesen Aufruf. Zu den Unterzeichnern der Erklärung gehörte der Physiker Max Planck ebenso wie die Philosophen Moritz Schlick oder Edmund Husserl.
Zahlreiche Wissenschafter beteiligten sich aber auch aktiv am Kampfgeschehen. Eine Schlüsselfigur in Deutschland war der Chemiker Fritz Haber, dem zeitweise 1500 Mitarbeiter zur Verfügung standen, um synthetische Nitrate für Sprengstoff, aber auch Chlor- und Senfgas herzustellen. Der erste verheerende Giftgaseinsatz bei Ypern in Belgien trieb Habers Frau Clara Immerwahr, die erste Chemikerin Deutschlands, in den Selbstmord, während die aus Wien stammende Physikerin Lise Meitner ihrem Kollegen „zu dem schönen Erfolg“ gratulierte.
Auch an den österreichischen Universitäten und Hochschulen war die Kriegsbegeisterung groß. Zahlreiche Studierende und Wissenschafter der Universität Wien meldeten sich freiwillig, um an vorderster Front zu kämpfen: In den ersten Kriegstagen waren es mehr als 300, die für die „Akademische Legion“ in den Krieg ziehen wollten. 1 Wenig später, am 11. August 1914 stellte Rektor Richard von Wettstein die Räume des Universitätshauptgebäudes als Verwundetenspital zur Verfügung. Das würde den Angehörigen und Freunden der Universität Gelegenheit bieten, ihre Kräfte im Dienste einer, so Wettstein, „einheitlichen, großen und wichtigen Kriegshilfsaktion zu konzentrieren“, die immerhin zwei Jahre lang dauerte.
Auch Forscher der Universität Wien stellten sich mit ihrer wissenschaftlichen Expertise in den Dienst des Militärs: Der Pharmakologe Hans Horst Meyer (Rektor der Universität Wien 1917/18) sowie die Chemiker Jean Billiter, Ernst Philippi und Jacques Pollak waren etwa für das k.u.k. Technische Militärkomitee zumindest mittelbar in die Entwicklung von Kampfgasen involviert. Andere Mitarbeiter der Alma Mater Rudolphina nützten den Krieg für eigene Forschungen wie die Anthropologen Rudolf Pöch und Josef Weninger oder der Musikethnologe Robert Lach, die Kriegsgefangene in den Lagern auf der Suche nach „Rassenmerkmalen“ zwangsweise vermaßen, Gipsabrücke nahmen und sie Lieder singen ließen. 2
Weniger lästig für die Betroffenen waren die Projekte von zwei anderen Dozenten der Universität Wien: Der Biologe und Komponist Paul Kammerer, der mit seinen Experimenten zur Vererbung erworbener Eigenschaften internationales Aufsehen erregt hatte, musste gemeinsam mit dem aufstrebenden Sprach- und Literaturwissenschafter Leo Spitzer an der k. u. k. Zensurbehörde den unfreiwilligen Militärdienst ableisten und dabei täglich Abertausende von Briefen italienischer Kriegsgefangener kontrollieren, die nichts Schlechtes über ihre Behandlung in Österreich schreiben durften.
Leo Spitzer machte mit Kammerer das Beste daraus, nämlich eine Art linguistisches Laborexperiment. Der damalige Dozent der Uni Wien, der im US-Exil einer der führenden Vertreter seines Fachs im 20. Jahrhundert werden sollte, verfasste auf Basis des Textmaterials drei Bücher, in einem davon widmete er sich ausschließlich den Umschreibungen des Begriffs „Hunger“, den die italienischen Kriegsgefangenen nicht verwenden durften, damit kein schlechtes Licht auf ihre Behandlung in den österreichischen Lagern fiel. 3 Sprachwissenschaftern gilt dieses Werk Spitzers als die erste diskursanalytische Studie überhaupt.
Paul Kammerer wiederum entwickelte in der Zensurabteilung weitere Ideen für innovative kultur- und sozialwissenschaftliche und soziologische Forschungsprojekte, die aber nur ansatzweise realisiert werden konnten, wie etwa Analysen von Postkartenmotiven. Damit nicht genug, verfasste er ab 1915 und insbesondere in den Jahren 1918 und 1919 zahlreiche Essays gegen den Krieg und in denen er etliche seiner wissenschaftlichen Kollegen und Vorbilder wie Ernst Haeckel für ihre positive Haltung zum Krieg kritisierte. 4 Kammerer argumentierte in diesen Texten, die kompiliert auch in zwei Büchern erschienen, vor allem biologisch:
„Der Krieg übt negative Auslese, Kontraselektion; er bewirkt Übrigblieben der Schlechtesten, oft der Feigling und Verräter auf dem Kampfplatz, der Schwachen und Bresthaften im sicheren Daheim.“ 5
Die Bilanz des Ersten Weltkriegs war für die Universität, für Wien und für Österreich in jeder Hinsicht katastrophal. Rund 600 Studierende der Universität Wien hatten bei den Kampfhandlungen ihr Leben verloren, noch sehr viel mehr Studierende und Lehrende hatten ihre Gesundheit, ihr Hab und Gut für „Gott, Kaiser und Vaterland“ geopfert. Auch einige exzellente Wissenschafter starben im Feld – wie bereits im Oktober 1915 der 41-jährige Friedrich Hasenöhrl, der als die große Hoffnung der theoretischen Physik in Österreich galt und sowohl zur Relativitätstheorie wie auch zur Quantenphysik frühe Beiträge geleistet hatte. Ihm folgte Hans Thirring nach, der als Freiwilliger für das k.u.k. Technische Militärkommando der an der Verbesserung lichtelektrischer kriegstechnischer Geräte gearbeitet hatte.
Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges machten Thirring „zum überzeugten Kriegsgegner und Antimilitaristen“, eine Überzeugung, an der er später „nie mehr wankend wurde“. 6 Es dauerte bei ihm freilich – anders als bei Kammerer – noch einige Jahre, ehe er sich in aller Öffentlichkeit für den Frieden engagierte. Der Biologe war ein öffentlicher Wissenschafter durch und durch und machte nach dem Ende des Kriegs weder aus seinem Pazifismus noch aus seinem Atheismus oder seiner sozialistischen Gesinnung ein Hehl, im Gegenteil: Er vertrat seine Ansichten in zahllosen öffentlichen Vorträgen und Publikationen.
Diese Form der Öffentlichkeitsarbeit aber war seiner weiteren Karriere an der Universität Wien, wo nach dem Ersten Weltkrieg deutsch- und katholisch-nationale Kräfte bald die Oberhand gewannen, wenig förderlich: Kammerer scheiterte 1919 mit seinem Antrag, eine unbezahlte a. o. Titularprofessur zu erhalten. Offiziell wurde ihm ein allzu populärwissenschaftliches Buch („Das Gesetz der Serie“) zu Vorwurf gemacht, das immerhin auch von Sigmund Freud und Albert Einstein rezipiert wurde. „Inoffiziell“ ist davon auszugehen, dass sich die Professorenschaft der Philosophischen Fakultät, die darüber zu befinden hatte, sich an Kammerers Pazifismus, der jüdischen Herkunft seiner Mutter und seinen linken politischen Überzeugungen stieß.
Immerhin setzte sich sogar Albert Einstein im Jahr 1920 dafür ein, dass Kammerer eine Professur in Zürich bekommen möge, da der Biologe als „Internationalist und Pazifist“ auch in Deutschland wenig Aussichten auf eine universitäre Anstellung habe. 7 Einsteins Intervention blieb ohne Erfolg, und Kammerer beging schließlich 1926 unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen Selbstmord. Das Scheitern seiner Karriere an der Universität Wien war gewiss ein Faktor, der mit dazu beigetragen hat.
Knapp zehn Jahre später hatte dann Hans Thirring, seit 1927 Ordinarius für theoretische Physik an der Universität Wien, sein Coming-out als Pazifist und Antifaschist: Als Vertreter Österreichs nahm er 1936 an der ersten Konferenz des Rassemblement Universel pour la Paix in Paris teil, einer internationalen Friedensvereinigung. Als der Physiker dann im Februar 1937 in Wien einen Vortrag über „Die Krise der Kultur und der Wissenschaft“ halten wollte, untersagte ihm das Rektor Leopold Arzt unter anderem mit der Begründung, dass „die sozialistische Studentenschaft diesen Vortrag geradezu als in den Rahmen der sozialistischen Friedenspropaganda gehörig“ betrachten würde und Thirring mit den Zuhörern die „faschistische Kriegsgefahr“ diskutieren wollte. 8
Nach dem „Anschluss“ im März 1938 wurde Thirring, der Protestant war, aus politischen Gründen am 22. April zwangsbeurlaubt und im Dezember pensioniert – auch deshalb, weil er sich mit der „jüdischen“ Relativitätstheorie befasste, mit den Juden Albert Einstein und Sigmund Freud befreundet war und „wehrkraftzersetzende“ Haltungen vertrat. Der Physiker verlor im Zweiten Weltkrieg seinen Sohn Harald, der zuvor grauenvolle Schilderungen der Kriegsgräuel am Balkan nach Hause geschickt hatte. Thirrings Engagement für den Frieden wurde dadurch noch stärker.
Als Reaktion auf die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki verfasste der Physiker 1946 das Buch „Die Geschichte der Atombombe“, in dem er bereits die Wasserstoffbombe vorwegnahm und ihren Zünder korrekt beschrieb. 9 Das letzte Kapitel widmete sich dem Thema „Atombombe und Weltfrieden“, das auch die nächsten drei Jahrzehnte seines Lebens bestimmen sollte. Das war freilich alles andere als eine einfache Aufgabe: Thirring wurde ein ideologisches Opfer des Kalten Kriegs und insbesondere in den USA als Kommunist denunziert.
Nichtsdestotrotz nahm Thirring als Gründungsmitglied ab 1957 an der Pugwash-Bewegung teil, einer nach einem kanadischen Fischerdorf benannte Friedensinitiative von Wissenschaftern im Gefolge des Russell-Einstein-Manifests. Thirring organisierte 1958 in Kitzbühel und Wien die dritte der vielen Pugwash-Konferenzen, denen ein entscheidender Anteil am Atomteststopp im Jahre 1963 und dem Atomwaffensperrvertrag zukam. Als SPÖ-Bundesrat propagierte Thirring auch die einseitige und völlige Abrüstung Österreichs, die als Thirring-Plan bekannt wurde, 1963 im Parlament einen Tumult auslöste und ihm zwei Nominierungen für den Friedensnobelpreis eintrug. Den erhielt Thirring zeit seines Lebens zwar nie – dafür aber Józef Rotblat, der 1995 stellvertretend für die Pugwash-Konferenzen damit ausgezeichnet wurde.
P.S.: Kürzlich wurde dem in Kalifornien lebenden Chemienobelpreisträger Walter Kohn, der als Jugendlicher von den Nazis vertrieben worden war, eine weitere Ehrung aus Wien angetragen. Kohn reagierte skeptisch – und mit einer Frage: ob jemand wie Hans Thirring schon ausreichend geehrt worden sei.
1 Zur Universität im Ersten Weltkrieg vgl. zuletzt Klaus Taschwer: Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien: Czernin Verlag, 2015, S. 45–69
2 Zu den anthropologischen und ethnografischen Untersuchungen im Ersten Weltkrieg vgl. Britta Lange: Die Wiener Forschungen an Kriegsgefangenen 1915–1918. Anthropologische und ethnografische Verfahren im Lager. Wien: Verlag der ÖAW, 2013
3 Leo Spitzer: Die Umschreibungen des Begriffs „Hunger“ im Italienischen. Stilistisch-onomasiologische Studie auf Grund von unveröffentlichtem Zensurmaterial. Halle: Verlag von Max Niemeyer 1920
4 Paul Kammerer: Einzeltod, Völkertod, Biologische Unsterblichkeit und andere Mahnworte aus schwerer Zeit. Wien/Leipzig: Anzengruber-Verlag Brüder Suschitzky 1918 sowie Paul Kammerer: Menschheitswende. Wanderungen im Grenzgebiet von Politik und Wissenschaft. Wien: Verlag Der Friede 1919
5 Kammerer 1918 (op. cit), S. 52. (Das abwertende und deshalb kaum mehr verwendete Wort bresthaft bedeutet kränklich oder behindert, K.T.
6 Gabriele Kerber, Ulrike Smola und Brigitte Zimmel (Hg.): Hans Thirring – ein homo sapiens. Zitate, Bilder und Dokumente anlässlich der 101. Wiederkehr seines Geburtstages, Wien: Fassbaender 1989, S. 16
7 Robert Schulmann (Hg.): Seelenverwandte. Der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Heinrich Zangger (1910–1947). Zürich: Verlag der NZZ 2012, S. 345 und 349
8 Gabriele Kerber, Ulrike Smola und Brigitte Zimmel (Hg.): op. cit., S. 35
9 Hans Thirring: Die Geschichte der Atombombe. Mit einer elementaren Einführung in die Atomphysik auf Grund der Originalliteratur gemeinverständlich dargestellt. Wien: „Neues Österreich“ Zeitungs- und Verlagsgesellschaft 1946.