Wahrscheinlich ist alles noch viel schlimmer und brutaler
Šimon Vosecek im Gespräch mit Christian Heindl
CH: Wann hast du den Auftrag zu Hybris erhalten und in welchem Zeitraum entstand die Partitur?
SV: Wir haben schon länger über ein Opernprojekt gesprochen. Da das sirene Operntheater auf neue Stücke setzt, sind Jury und Kristine immer auf der Jagd nach Komponisten. Die ersten Gespräche müssen irgendwann Anfang 2014 gewesen sein. Im Sommer 2014 schickte mir Kristine eine erste Arbeitsversion von einem Libretto; das war damals noch Nemesis. Bei der definitiven Aufteilung der drei Geschichten auf die drei Komponisten, bin ich zu Hybris gekommen. Danach wurden die Libretti in Absprache mit uns in die literarische Endform gebracht.
Ich hatte damals noch viel Arbeit, und konnte mich erst im Sommer 2015 ordentlich mit dem Stück beschäftigen. Dann liefen mir Monate zwischen den Fingern davon und ich hatte immer noch nicht einmal eine Idee für den Anfang. Im Oktober ist dann der Zeitdruck viel zu groß geworden, da habe ich ans Aufgeben gedacht. Davon war aber irgendwie niemand begeistert, was auch gar nicht überraschend ist, und so habe ich das Libretto noch einmal analysiert und versucht dahinterzukommen, was mich aus meiner Sicht am Fortkommen hinderte.
Ergebnis dieser Phase war ein letzter Schnitt, eine richtige Operation, die gegen Ende Oktober 2015 abgeschlossen war. Ab dem Moment ist alles plötzlich wunderbar geflossen, ohne nennenswerte Krisen. Trotzdem war ich erst Anfang Juli 2016 mit der Partitur fertig. Es ist schon wahnsinnig viel Arbeit, eine Oper zu schreiben.
CH: Was hat dich besonders an diesem Stoff fasziniert und gab es angesichts des Inhalts eventuell auch emotionale oder gedankliche Hürden für dich?
SV: Das ist nicht ganz leicht zu beantworten, weil ich nicht selbst die Wahl getroffen habe, sondern mir das Libretto zugeteilt wurde. Ich war diesem Stoff von vornherein nicht abgeneigt, ich musste aber trotzdem zunächst lernen, das Faszinierende daran schätzen zu lernen. Emotionale oder gedankliche Hürden bei der Darstellung von Schweinereien auf der Bühne habe ich kaum, dafür kennst du mich gut genug. Ich bin glücklich, dass die Geschichte sehr aktuell ist, dass sie ein Fenster in die Welt öffnet und dass die Handlung Raum zum Nachdenken und Überlegen bietet. Ich glaube, es wird Leute im Publikum geben, die sich das Stück im Nachhinein ein paar Mal durch den Kopf gehen lassen, und das ist eigentlich das Wichtigste.
In den letzten zwei Jahren habe ich oft die Frage beantwortet, wovon denn meine neue Oper handle, und die Reaktionen auf das Thema waren durchwegs positiv, aber auch überrascht. Für viele Leute ist Oper ja ein Genre aus der tiefen Vergangenheit, das mit der Gegenwart nichts zu tun hat, ein seltsames, artifizielles Ding, wo Leute singen statt zu sprechen, und die Stücke ein kompliziertes, intrigantes Nichts behandeln. Ich finde aber die zeitgenössische Oper total lebendig und bin froh, wenn sich das in der Themenwahl widerspiegelt.
CH: Das Thema von Hybris ist Organhandel, ist in der Oper auch ein aufklärender Ansatz enthalten?
SV: Aufklärender Ansatz, hm. Mich selber hat die Arbeit an der Oper dazu angeregt, mich viel mit dem internationalen Organhandel zu beschäftigen. Das fällt doch auch unter Aufklärung, oder? Vielleicht informiert sich jemand im Publikum auch weiter. Das Stück selber ist jedenfalls nicht pädagogisch im engen Sinn, es legt keinen Wert auf dokumentarischen Hyperrealismus. Wir haben aber schon darauf geschaut, dass auf der realistischen Ebene alles durchführbar ist, vor allem hinsichtlich der Zeitabläufe. Man kann also von der Wirklichkeit des real existierenden Kapitalismus schon einiges mitbekommen.
CH: Wie realistisch oder wie weit hergeholt siehst du die Story deiner Oper in Vergleich zu einer aktuellen Situation?
SV: Ich würde sagen, wahrscheinlich untertreibt die Geschichte. Wahrscheinlich ist alles noch viel schlimmer und brutaler. Das ist vielleicht eine pessimistische Sicht der Welt, aber das, was ich bis jetzt zu dem Thema gelesen habe, legt es nahe. Andererseits ist da auch die reflektierende und metaphysische Ebene des Stücks, die weitere Fragen aufwirft, und eventuell die Brutalität etwas weicher zeichnet. Metaphysik muss aber nicht zwangsläufig im Konflikt mit der Realität stehen, oder?
CH: Wie gestaltete sich die dramaturgische Zusammenarbeit mit der Librettistin der drei Hospital-Opern, Kristine Tornquist – Kalter Krieg oder New Deal?
SV: Hm, harmonische Verschmelzung bietest du erst gar nicht an? – Unsere Zusammenarbeit jedenfalls war für uns beide eine neue Erfahrung, nicht immer einfach, aber das muss es auch nicht sein. Ich habe zum ersten Mal mit einer Librettistin richtig zusammengearbeitet und nicht selbstständig über Änderungen entscheiden können. Kristine wiederum hatte noch nie erlebt, dass jemand so stark in die Struktur eingreift. Insofern also quasi ein „New Deal“, allerdings ohne vorher ausgemacht zu haben, wie der Deal ausschauen wird, und so ging es mal fröhlich zu und mal war es schmerzhaft. Ich finde übrigens, am Ende der langen und wechselvollen Geschichte steht ein hervorragendes Libretto, und das ist es, was für mich zählt. Der ganze Prozess um dessen Entstehung ist bloß eine persönliche Erfahrung, die man für die eigene berufliche Zukunft gut brauchen kann, aber letztlich mit der fertigen Oper nichts zu tun hat.
CH: Hast du den Eindruck, dass die Erfahrungen, die du aus deinen früheren Bühnenwerken – „Heiteres Bezirksgericht“, „Biedermann und die Brandstifter“ – gesammelt hast, bei der nunmehrigen Arbeit hilfreich waren?
SV: Ja, das auf alle Fälle. Ich habe aber in den zehn Jahren, die inzwischen seit der Komposition von „Biedermann“ verflossen sind, natürlich auch sonst viel gemacht. Ich habe jedes Jahr einige Instrumentalstücke geschrieben, von denen ein paar für die Oper recycelt werden konnten, was freilich in der Theorie super geheim bleibt. Außerdem war ich beteiligt an drei Sprechtheaterproduktionen mit meiner Performancegruppe „schallundrauch agency“, und das wiederum hat meiner Sicherheit im Umgang mit Text und Dramaturgie sehr geholfen. Allerdings war es eventuell auch ein Stolperstein in der Zusammenarbeit mit Kristine, die gerne den gesamten Bereich des Wortes bei sich gehabt hätte.
CH: Vermag ein solcher Stoff heute das Publikum zu schockieren, ist ein solcher Effekt allenfalls sogar gewünscht?
SV: Mir ist es nicht wichtig, zu schockieren. Womit kann heute auf der Bühne überhaupt noch richtig schockieren, und wozu ist das gut? Ich gehe in meiner Arbeit stark von den Figuren aus: Welche Motivation hat wer für sein Handeln? Was ist sein oder ihr Hintergrund? Welche Emotionen bewegen wen? Da gilt es, nichts zu beschönigen. Aber es gibt – neben der Schwester Sanjivani – eine sehr positiv gezeichnete Figur im Stück, Herrn Soma, den jungen moldawischen Leberlebendspender. Er übernimmt dramaturgisch die Rolle von einer Art „Christus“, und seine Musik entspricht dem auch. Ich habe einmal in einer Doku über das gegenwärtige Bulgarien ein Interview mit einem älteren Roma gesehen, er arbeitete als Totengräber auf einem Friedhof in Sofia. Er hatte eine unglaubliche Lebensweisheit und Frieden ausgestrahlt, im totalen Kontrast zur abgehetzten Verzweiflung aller anderen Personen. Er ist ein Stück Vorbild für Soma geworden, auch wenn Soma von seiner Weisheit noch lange entfernt ist.
CH: Erwartet uns eine illustrierende Musik oder siehst du deine Arbeit auf einer abstrakten Ebene?
SV: Das ist eine Sache, die ich am Musiktheater besonders schätze, und die mir vielleicht auch liegt: Man kann im Schatten der Erzählung wirklich alle Register ziehen. Man muss nicht, aber man kann. Und ich genieße dabei meine Freiheit. Also gibt es natürlich auch Deskriptives. Es gibt Anklänge und Assoziatives. Es gibt sogar ein Zitat aus „Turandot“, wenn der Organhandel mit China angesprochen wird. Allerdings gibt es – hoffentlich – nicht nur das. Der Komponist kann das Gesagte unterstützen, aber auch konterkarieren; oder nicht darauf eingehen. Man hat als Komponist eine furchtbare Macht über die Geschichte.
CH: Auch für das Libretto, aber speziell für die Musik gesprochen: Ist der Ansatz todernst oder gibt es Raum für Ironie, eventuell sogar Humor?
SV: Am Anfang, als es den handelnden Personen noch nicht dämmern kann, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden, gibt es Statements, die musikalisch recht ironisch ausfallen. Aber mit dem Fortschreiten der Handlung gibt es immer weniger zu lachen, und Rückgriffe auf die ironischen Passagen dürften eher beklemmend wirken. Ich habe aber bei mir zu Hause eine Art Präsentation gemacht, die Partitur vom Computer abpiepsen lassen und dazu alle Rollen gesungen. Und es wurde auch gelacht, und mich hat es gefreut.
CH: In allen drei Hospital-Stücken spielt das Metaphysische eine mehr oder minder starke Rolle. Wie wird diese nicht zuletzt dem Publikum verdeutlicht, ist der Zugang ein leichter oder bedarf es doch der begleitenden Zusatzinformation, um diese verfolgen zu können?
SV: Das muss man sich anschauen, nachdem die Stücke vor Publikum aufgeführt wurden. Mir ist grundsätzlich lieber, wenn Kunstwerke für sich sprechen und keiner externen Erklärung bedürfen, es gibt aber in der zeitgenössischen Kunst große Ausnahmen, die ich sehr schätze. Im Fall von "Hybris" erschließt sich vielleicht nicht alles hundertprozentig, aber vielleicht ist das auch nicht der Punkt. Wieso weiß Heini immer auf den Tag genau, wann Patienten sterben? Er mag im Libretto die Rolle des Todes spielen, aber so muss ihn das Publikum nicht zwangsläufig verstehen, und das ist auch gut so. Die junge Krankenschwester Sanjivani repräsentiert zwar das Leben, sie ist aber in "Hybris" schwer greifbar, und für mich ist es völlig okay, wenn sie fürs Publikum einfach als ein guter Mensch dasteht. Wie immer, es wird vieles auch von der Inszenierung abhängen.
CH: Gibt es so etwas wie eine „Moral von der Geschichte“, ein allgemeingültiges Fazit, das über das Thema Organhandel im engeren Sinn hinausgeht?
SV: Naja, ich bin für eine „Moral von der Geschichte“ eigentlich schwer zu gewinnen. Ich mag es lieber, wenn man die Möglichkeit bekommt, sich selber eine Meinung zu bilden. Ich höre lieber vor dem eigentlichen Ende auf, weil das erst ermöglicht, die Geschichte im Kopf weitergehen zu lassen. Das ist in "Hybris" nicht ganz der Fall, wir erzählen brav die einzelnen Handlungsstränge von Anfang bis zu einem bestimmten Endpunkt; der ist aber so gewählt, dass es am Ende quasi einen ganzen Fragenkatalog gibt. Es soll ja keine oberflächliche Revue werden, wir wollen die Leute bewegen.