Die Presse / Schaufenster, 21.10.2016, Barbara Trampitsch-Petsch
Tornquist / Everhartz: Das kostbare Leben
Opernmacher. „Ich möchte Zärtlichkeit vermitteln“: Kristine Tornquist und ihr Partner Jury Everhartz
Kristine Tornquist und Jury Everhartz zeigen in ihrem sirene Operntheater brisante aktuelle und historische Stoffe. Demnächst geht es um die Medizin. Sie ist gelernte Bildhauerin, schreibt Libretti und inszeniert sie. Er ist Komponist, Dirigent und Produzent. Seit 1998 arbeiten die beiden zusammen, auch im Leben sind sie ein Paar: Die gebürtige Grazerin Kristine Tornquist und der Berliner Jury Everhartz haben in Wien das sirene Operntheater gegründet, das zuletzt drei Produktionen jährlich zeigte.
Die Spezialität der beiden sind aktuelle bzw. aktualisierte historische Stoffe. Tornquist schrieb mehrere Opern: über einen russischen Oligarchen, „Chodorkowski“, „Sisifos“ oder das „Gilgamesch“-Epos. Ab 3. November zeigt sirene in der Wiener Kammeroper drei Stücke über das Leben im Spital: „Hybris“, „Nemesis“, „Soma“. Tornquist hat die Libretti verfasst, drei Komponisten, Šimon Voseček, Hannes Löschel und Christof Dienz, liefern die Musik. Ein Gespräch über Lebertransplantionen, Nahtod-Erfahrungen, „das Krankenhaus als Schlachtfeld moralischer Fragen“ – und über Arztserien im TV.
Waren Sie schon einmal im Spital, Frau Tornquist?
Tornquist : Sehr oft sogar. Als ich 16 Jahre alt war, wurden bei mir beide Hüften operiert. Da habe ich zum ersten Mal selbst den Spitalsalltag erlebt. Auf der Station im Spital waren außer mir fast nur Kinder, die Krebs hatten. Da war ich noch die Gesündeste und Glücklichste. Fast jede Krankheit wird getoppt von einer schlimmeren.
Wie lang waren Sie im Spital?
Tornquist: Nicht so lang. Aber ich musste zwei Monate liegen, bevor ich wieder aufstehen konnte. Dann saß ich im Rollstuhl. Ich habe sehr viel darüber erfahren, was für ein Glück man hat, wenn man gesund ist. Dabei war ich zu Hause gut versorgt. Mein Vater ist Arzt, ein bekannter Chirurg, der die erste Lebertransplantation in Österreich gemacht hat, auch Krankenhaus-Direktor war. Ich komme aus einer Arztfamilie. Ich habe immer gewusst, das ist ein todwichtiger Beruf, der einen von sieben Uhr in der Früh bis acht Uhr am Abend in Anspruch nimmt. Mein Vater hat für seinen Beruf gelebt.
Sie selbst wollten nie Ärztin werden?
Tornquist: Nein. Ich wollte niemals so viel Verantwortung haben. Wenn ich in der Oper etwas falsch mache oder als Bildhauerin, ist es letztlich egal, davon geht die Welt nicht unter. Aber am Tod eines Menschen schuld sein, das möchte ich auf keinen Fall.
„Hybris“, „Nemesis“, „Soma“ heißen die drei Stücke, das klingt nach den Phasen einer Krankheit, am Anfang lehnt man sich auf, dann kämpft man, und schließlich gibt man auf. Die Schweizer Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross hat die Phasen der Konfrontation mit Krankheit und Tod eindringlich beschrieben.
Tornquist: Für mich war es schwierig, mich auf drei Themen einzugrenzen. Das Krankenhaus ist ein Schlachtfeld der moralischen Fragen. Es geht um den Wert des Lebens und das Geld, wie viel es kosten darf, es zu erhalten. Krankheit und Tod, darüber wird nicht viel geredet in der Gesellschaft. Die Komponisten, mit denen wir sprachen, waren zunächst befremdet und haben gefragt, warum wir eine Oper über das Krankenhaus machen wollen. Inzwischen haben sie uns verstanden, im Spital ist man an der Basis der Lebensentscheidungen, das gilt für Ärzte wie für Patienten.
Zum Glück nicht immer, nicht bei Blinddarmoperationen.
Tornquist: Wir haben die schlimmeren Themen. In „Hybris“ geht es darum, dass alles, was machbar ist, auch gemacht wird. Um Organspender, die ihre halbe Leber verkaufen. Das ist eine neue Technik, die relativ zukunftsträchtig ist. Man kann jemandem eine halbe Leber entnehmen und sie einem anderen einsetzen – und beide regenerieren, wenn es gut geht.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Tornquist: Wie jeder andere auch. Mehr an dem Zurückwirken des Todes auf das Leben. Wenn jemand zum Beispiel weiß, dass er in einem halben Jahr sterben wird.
Diese Prognosen sind manchmal falsch.
Tornquist: Dann hat man ein zweites Leben. Bei Krebs zum Beispiel. Es gibt auch viele Berichte über Nahtoderlebnisse.
Hatten Sie das schon einmal?
Tornquist: Nach der Geburt meiner Tochter bin ich umgekippt und habe mein Leben rückwärtslaufen gesehen. Ich dachte, jetzt sterbe ich, aber ich war ganz weit weg vom Tod, nur ohnmächtig. Trotzdem war es ein Gefühl, es könnte so sein.
Gibt es etwas nach dem Tod?
Tornquist: Ich vermute, nein, aber im Stück lassen wir das offen. Wir haben den personifizierten Tod auf der Bühne und auch das personifizierte Leben.
Die Leute schauen sich stundenlang diese Arztserien im Fernsehen an: „Grey’s Anatomy“, „Emergency Room“, „Dr. House“. Was ist so toll daran?
Tornquist: Es gibt auch eine komische Seite des Krankenhauses. Die Ärztegesellschaft hat auch etwas Lustiges. Sie ist sehr hierarchisch, ein geschlossener Kosmos. Mein Bruder ist Arzt, er schaut sich diese Serien gern an und amüsiert sich. Mein Vater würde sie bestimmt nicht heiter finden.
In diesen Arztserien sind die Liebesgeschichten der Ärzte manchmal wichtiger als die Patienten.
Tornquist: In unseren Opern stehen die Patienten im Mittelpunkt. Aber sie haben kleinere Rollen und weniger zu singen als die Ärzte. Wir haben drei unabhängige Geschichten entwickelt. Hinter jeder Geschichte steht eine wahre Geschichte. Die dritte Oper spielt in der Notaufnahme. Dort gibt es eine Tragödie. Eine Ärztin erforscht den Tumor, den sie hat. In der Wirklichkeit ist diese Geschichte gut ausgegangen. Ich finde es spannend, dass man ein Gefühl hat, was im eigenen Körper los ist. Letztlich bleibt der Mensch mit seinem Körper, trotz aller Medizin, die ja eine Naturwissenschaft ist, ein Geheimnis. Es gibt Glück, es gibt Pech. Körper und Psyche sind ein ungenaues Objekt, ein unfassbarer Komplex.
Wie wird die Musik? Neue Musik hat so einen gewissen Ruf. Dissonanz ist Trumpf. Manche nennen das Katzenmusik.
Everhartz: Was würde dazu wohl die Katze sagen?
Tornquist: Neue Musik hat sich nach allen Richtungen verbreitert. Es gibt jetzt viel neue Musik, die reizvoll zu hören ist und bei der man sich gut unterhalten kann. Wenn man es richtig anpackt, eine spannende Geschichte und dazu die passende Musik hat, läuft das.
Everhartz: Als Künstler oder Komponist definiert man sich nicht nur über eine Sache, die man macht. Šimon Voseček, der die Musik zu „Hybris“ komponiert hat, wurde 1978 in Prag geboren. Er hat eine Tanz-, Klavier- und Orgelausbildung, und er spielt in Theaterstücken, die er selbst produziert. Hannes Löschel wurde 1963 in Wien geboren. Er hat „Nemesis“, das zweite Stück, vertont. Er kommt nicht von einer Musik, die viel mit Schrift zu tun hat. Er improvisiert, ist ein Jazzer. Christof Dienz, der die Musik zu „Soma“ geschrieben hat, wurde 1968 in Innsbruck geboren, er komponiert, ist aber auch Fagottist und spielt bei renommierten Ensembles wie dem Klangforum Wien. Die Herkunft und das Umfeld sagen auch nicht alles über die Art und Weise der Kompositionen, aber keines unserer Stücke wird diesem gewissen Ruf gerecht, den Sie meinen. Im Gegenteil, es wird wirklich spannend!
Spielt der Computer in der Musikproduktion nicht heute eine immer wichtigere Rolle?
Everhartz: Eine ganz wichtige. Jetzt schreiben auch schon die alten Komponisten mit Computerprogrammen. Natürlich kann man sich fragen, welche Auswirkungen das wirklich hat. Die ganze Musik ist ja die Auseinandersetzung zwischen dem Komponisten und dem Papier, erst wenn der Komponist etwas aufs Papier schreibt, hat er den Überblick. Jetzt gibt es so eine Art Schreibmaschine für Noten, dadurch ändert sich dieses Verhältnis zwischen Komponist und Papier. Manche bedauern das. Aber das ist nur so eine romantische Vorstellung, dass man mit einer neuen Schrift nach dem völlig Ungehörten sucht. Das gibt es nicht mehr.
Sie sind nicht sauer, dass Sie die Medizin-Opern nicht komponieren durften, Herr Everhartz?
Tornquist: Mein Mann ist diesmal Produzent und Dirigent. Komponieren, dirigieren und produzieren wäre zu viel.
Die Oper gilt vielen als museal.
Everhartz: Das liegt am Aufwand, der gar nicht so leicht herzustellen ist. Riesige Budgets werden dafür aufgebracht – und wo viel Geld im Spiel ist, gibt es relativ wenig Bewegung. Darum werden immer dieselben Opern gespielt.
Ärgern Sie sich als Off-Opern-Gruppe über das viele Geld, das Staats- und Volksoper bekommen?
Tornquist: Die Staatsoper ist meiner Ansicht nach ein Tourismusbetrieb. Die Volksoper hat ihr eigenes Publikum. Nein, ich bin nicht neidisch. Aber manchmal ärgert mich der wahnsinnige Aufwand, den wir selbst treiben – der verpufft. Man muss lang an der Musik und am Text schreiben, dann vergeht noch einmal viel Zeit, bis die Aufführung auf eine Bühne kommt. Dann spielt man ein paar Mal – und es ist vorbei. Es gibt kaum Zweitaufführungen oder Gastspiele.
Sie leben vom sirene Operntheater?
Tornquist: Ja, aber es hat zehn oder zwölf Jahre gedauert, bis uns das gelungen ist.
Es gibt so viele Schauspielhäuser in Wien, aber kein Haus für die freie Opernszene.
Everhartz: In den 1990er-Jahren gab es eine große Debatte für ein Opernhaus der freien Musiktheaterszene im Jugendstiltheater. Aber es war unklar, wer das Sagen bei der Bühne der freien Operngruppen hat und wer über das Geld bestimmt.
Letztlich sind es die Intendanten, wie im brut im Künstlerhaus.
Tornquist: Ich finde, das ist eine traurige Entwicklung. Mir hat es besser gefallen, als die Kleinen und die Anfänger sich ausprobieren durften.
Wie viel Subvention bekommen Sie?
Everhartz: 180.000 Euro Subvention von der Stadt Wien, 30.000 Euro vom Bund. Wir haben einen Vierjahresvertrag. Im Verhältnis zum Produktionaufwand sind die Einnahmen unbedeutend.
Tornquist: Wir haben pro Vorstellung 300 Besucher. Das ist viel. Hätten wir höhere Kartenpreise als 20 Euro, käme nur ein bestimmtes Segment der Gesellschaft. Wir wollen kein Elite-Programm.
Haben Sie eine Mission?
Tornquist: Ich möchte Zärtlichkeit vermitteln. In jeder schrecklichen Geschichte gibt es auch etwas Positives, man soll jeder Figur folgen können, mit jedem Schicksal, mit jeder Fehlentscheidung mitgehen. Und man soll keine leichtfertigen Urteile fällen. Ich erfinde keine Figuren, die nur dazu da sind, etwas Negatives darzustellen. Ich möchte nicht zynisch sein und keinen Zynismus wecken. Die Besucher sollen eine freundliche Haltung gegenüber den Geschichten, den Themen und den Menschen einnehmen.
Warum heißt das sirene Operntheater so? Sirenen sind gefährliche Figuren in der Mythologie.
Tornquist: Ja, es gibt viele und mehrdeutige Geschichten über sie. Der Gesang der Sirenen ist betörend und erschreckend wie jener der Neuen Oper. Hoffentlich.
Welche Opernmusik mögen Sie selbst?
Tornquist: Barockoper. Sie hat so eine schöne Art von Zeitmanagement. Man kann so hineinschmelzen, die Werke sind oft sehr lang. Monteverdi ist mein Liebling, die „Krönung der Poppea“, eine grausame Geschichte, die damals sehr politisch gemeint war, genussvoll und scharf auf den Punkt gebracht.
Haben Sie ein Motto?
Tornquist: An der Grenze zwischen Tragödie und Komödie, das ist meine Lieblingsgegend.