24.09.2018, Oper in Wien, Dominik Troger | 25.09.2018, Klassik-Blog
Das um neue Spielstätten nie verlegene sirene Operntheater lotst das Publikum diesmal nach Hernals in den „Reaktor“ und befeuert die „kulturelle Kernspaltung“ mit einer Geschichte aus dem Hundertjährigen Krieg: „Jeanne & Gilles“ erzählt von der Beziehung zwischen der Jungfrau von Orléans und ihrem Kampfgefährten Gilles de Rais.
Der „Reaktor“ wurde erst vor wenigen Monaten in Betrieb genommen. Er logiert in den Räumlichkeiten des ehemaligen Etablissements Gschwandner zwischen Geblergasse und Hernalser Hauptstraße. Das Areal wurde nach dem neuen „Shabby-Shic“-Trend revitalisiert: Die Wände schauen aus, als wären die Maler mit der Anzahlung getürmt. Das glücklicher Weise der Abrissbirne entgangene Kleinod vorstädtischen Vergnügens, diente es doch ursprünglich als Gaststätte und Tanzlokalität, besteht aus drei Sälen. Der größte Saal, rund 140 Jahre alt, besitzt eine basilikale Anlage von fast sakralem Gepräge – und die Geschichte einer Heiligen ist dort perfekt aufgehoben.
Natürlich überrascht es, wenn das sirene Operntheater, vor zwei Jahren mit seiner Spitalstrilogie: „Hybris“, „Soma“, „Nemesis“ noch ganz „am Puls der Zeit“, plötzlich den Hundertjährigen Krieg für sich entdeckt und die glanzvolle Jeanne d'Arc und den obskuren Gilles de Rais auf die Bühne stellt. Einen Hang zur „metaphyischen Grenzüberschreitung“ konnte man dem Team um Kristine Tornquist, die mit ihren Libretti (wie auch in diesem Fall) seit Jahren eifrige Anregerin von Opernuraufführungen ist, aber nie ganz absprechen.
Die Mischung, die daraus entsteht, erweitert recht konkretes, mit einem Brecht’schen Zug versehenes Theater, um „Archetypen“, die mal aus der Antike geholt werden oder – wie in diesem Fall – aus dem Heiligenfundus der katholischen Kirche. Auf diese Weise wird das „Unbewusste“ als wichtiger Mitspieler soziokultureller Prozesse entdeckt, taugen sie doch oft als Chiffre für erlittene Traumata ebenso wie als Umschreibung für psychische Energien und Emotionen, die als Antriebskräfte Menschen vorwärts – oder umbringen.
„Jeanne & Gilles“ erzählt die seltsame Beziehung zwischen einer „Nationalheiligen“ und einem – wenn man den spätmittelalterlichen Prozessakten trauen darf – Massenmörder. Und wie meist in der Oper geht es um keinen Akt historiographischer Wahrheitsfindung, das sei zur Warnung aller Jeanne d'Arc-Enthusiasten gleich einmal angeführt, sondern um eine fiktive, nach den Quellen durchaus eigenwillig fortgesponnene Liebesgeschichte vor dem Hintergrund eines brutalen, die Persönlichkeiten der Teilnehmer korrumpierenden Krieges.
Während man Jeanne nicht vorstellen muss, sind einige Anmerkungen zur historischen Figur des Gilles de Rais sicher nützlich: Er hat an der Seite von Jeanne d‘Arc gekämpft und soll in den Jahren nach Jeans Tod laut Prozessakten mindestens 140 Kinder (vornehmlich Knaben) ermordet haben. Er wurde 1440 hingerichtet. Die Oper erklärt diese Morde offenbar durch ein Trauma, das Gilles bei der Hinrichtung seiner von ihm angebeteten Jeanne erlitten haben könnte: Ihre auf dem Scheiterhaufen ausgestoßenen Schreie ergreifen von ihm Besitz. Er vermutet in ihnen ein Geheimnis, das er nicht zu entschlüsseln vermag. Er sucht sich unschuldige Kinder als Opfer, deren Todesschreie ihn an Jeannes Schreie erinnern sollen, damit ihm endlich das vermutete Geheimnis offenbart werde. Aber mit jedem Mord wird dieses Geheimnis größer – und der Wunsch, es zu enträtseln, steigt ins Unermessliche. (Diese hochgradige Besessenheit Gilles' wäre in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts ein dankbarer Stoff für eine expressionistische Oper gewesen und sie hätte einer Geschichte von Edgar Allen Poe zur Ehre gereicht.)
Es ist genau dieser „Gruseleffekt“, der nach dem Publikum greift und das Interesse stark auf die Figur des Gilles ausrichtet. Jeanne als strahlende Heldin und Bauernopfer politischer Intrigen spielt zwar eine tragende Rolle, aber erst die Psychopathologie ihres Kampfgefährten drückt der Oper den Stempel auf. (Ist der „böse“ Charakter nicht meist der interessantere?) Sobald man den Mechanismus begriffen hat, der Jeanne und Gilles über Jeannes Tod hinaus zusammenschweißt, wird verständlich, was das Besondere dieser „amour fou“ – wie es die Librettistin im Programmheft nennt – ausmacht: Von der (unerfüllten) Liebe zum Albtraum, das ist manchmal nur ein ganz kleiner Schritt.
Ob ein „Stationendrama“, das von Jeannes Stimmvisionen über Kampf und Tod bis zu Gilles' Wahn in der Zeitlinie vorwärtsschreitet, formal die beste Lösung für die Behandlung des Stoffes gewesen ist? Die Handlung lässt sich dadurch zumindest einigermaßen parallel auf die beiden Hauptfiguren aufteilen: zuerst Jeanne, dann Gilles – und Gilles' Wahn bedarf natürlich einer sehr guten Begründung. Die Handlung erhält dadurch aber auch etwas Beschreibendes, das nicht notwendig Spannung an die Charaktere legt. Rund eineinhalb Stunden Spielzeit fördern außerdem die Verknappung, will doch ein historischer Zeitrahmen von 1429 bis 1440 durchmessen sein. Mit der Figur des Predigers Pasquarel wurde eine Klammer gefunden, die Beginn und Schluss verbindet, und die den Szenenreigen zusammenhält.
Die mehr begleitend beschreibende und sich um keine musikalischen Moden kümmernde Komposition von François-Pierre Descamps holt sich aus dem Fundus der Musikgeschichte, was sie benötigt. Sie setzt auf ein um Trompete und Schlagwerk ergänztes, 11-köpfiges Streichorchester (dreimal Violine, dreimal Viola, dreimal Cello, zweimal Kontrabass). Die Trompete ist das bestimmende solistisch geführte Instrument und dient nicht nur als „Signalinstrument des Kampfes“. Manchmal ganz leicht „jazzig“, in einen wie aus Ferne tönenden, durchscheinenden Schimmer alter Kirchentonarten getaucht, die eine Prise Sakralität einstreuen, wird die Handlung zwischen ariosen Einschüben mehr angekurbelt, als verdichtet. Manchmal konnte man dabei ein bisschen an Strawinsky denken oder bei einer kurzen „Schlachtenmusik“ an Prokofjews dem Untergang geweihte Ordensritter.
Die Singstimmen werden meist eher rezitativisch behandelt, das Textverständnis steht im Vordergrund. Jeannes Part ist musikalisch öfters mit einem funkelnden Pathos versehen, das der Partie anziehenden Glanz verleiht. Sogar Jeannes Scheiterhaufen-Schreie erwiesen sich schließlich durch ihre von Gilles' Mörderdasein in „Horrormanier“ angeregte Wiederholung als unverzichtbar – auch wenn es schwierig ist, dergleichen glaubhaft darzustellen. Ihr Sterben verbreitete ein wenig den naiven Charme eines barockgläubigen Passionsspiels.
Kristine Tornquist inszeniert die auf ihren Textbüchern beruhenden Opern praktischerweise gleich selbst. Das vor kleinen Schiebekulissen mit schöner gemalter Landschaft, Schlacht oder Feuer, in historisierenden Kostümen sich entwickelnde, ein wenig anachronistisch anmutende „Historiendrama“ wurde für das Publikum nur punktuell und sozusagen ganz „nebenbei“ mit einigen Gags „ironisiert“ – wobei ein mehr entspannter Humor im Vordergrund stand. (So machte etwa ein „Maschinist“ ein Selfie mit der in statuenhafte Pose verfallenen Jeanne.) Die Bühnenarbeiter halfen auch dabei, Jeanne zu verhaften und ihrem Urteil zuzuführen. An Requisiten gab es zumindest ein Schwert und von der Kulisse ablösbare Modellvögel. (Reizvolles musikalisches Vogelgezwitscher erklingt am Beginn und am Schluss dieser Kammeroper, denn in den Vögeln hört man Gottes Stimme, wie der schon genannte Augustinermönch Pasquarel dem Publikum nahelegt.)
Jeanne d‘Arc lieh Lisa Rombach eine warme, wie leicht vergoldet klingende Sopranstimme. Der Tenor Paul Schweinester brachte Gilles' Wandel vom schwärmerisch Verliebten zur ernüchterten, zerstörten Existenz gut zur Geltung. Das erste und das letzte Wort hatte Johann Leutgeb als Pasquerel – und sein kräftiger, sozusagen an Predigten gestärkter Bariton war nicht zu überhören. Andreas Jankowitsch und Bernd Lambauer standen den Genannten noch als markante Kämpfer zur Seite. Die Akustik des Saales hat einen deutlichen Nachhall produziert – aber der hat zum „Sujet“ gepasst.
Fazit: Viel Applaus. Weitere Vorstellungen gibt es am 26., 27., 28. und 29. September.