Die Verbesserung der Welt
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie führten uns in den vergangenen Monaten deutlicher denn je vor Augen, wie sehr unsere Welt im Großen wie im Kleinen von neoliberalen Glaubenssätzen durchdrungen und beherrscht wird. So wie bisher kann es nicht weitergehen – diesen Satz würden mittlerweile so viele Menschen wie nie zuvor unterschreiben. Was genau meint dieses „So“? Und was müssen wir tun, damit es statt „so“ grundsätzlich anders weitergeht?
1. Einer der größten Missstände wurde sehr schnell offenbar: die Tatsache, dass viele nun als Systemerhalter geltende Menschen, die überwiegende Mehrheit von ihnen Frauen, zu den am schlechtesten bezahlten Kräften in eben diesem System gehören. Wie kann es sein, dass die von ihnen erledigte Arbeit der Gesellschaft so wenig wert ist, während am anderen Ende des Spektrums das Zehn-, Zwanzig- oder Hundertfache bezahlt wird? Die meisten Argumente zur Verteidigung der großen Einkommensschere – Dauer der Ausbildung, Stress, Arbeitszeit, das Spiel von Angebot und Nachfrage – lassen sich bei genauerer Betrachtung leicht entkräften. Es liegt auch nicht an der Verantwortung, mit der etwa bei Konzernmanagern argumentiert wird: Gerade sie sind oft mehr den kurzfristigen Eigeninteressen und jenen der Eigentümer – steigende Börsenkurse und Dividenden – als dem langfristigen Wohlergehen des gesamten Unternehmens verpflichtet. Und gehen selbst dann, wenn sie einen Betrieb in die roten Zahlen gesteuert haben, aufgrund bestens ausgehandelter Verträge oft mit Millionen nach Hause.
Wer also setzt fest, dass gerade sie ein Vielfaches – hierzulande mehr als das 50-Fache, in den USA bei manchen Unternehmen das 1000- oder gar 5000-Fache – des einfachen Arbeiters oder Angestellten bezahlt bekommen? Es ist letztendlich die Finanzwirtschaft, der es im Verbund mit den großen multinationalen Konzernen gelungen ist, der Welt ihr Bild vom Leistungsträger als das einzig wahre zu verkaufen.
Es gilt daher, der Finanzelite die alleinige Deutungshoheit in dieser Frage zu nehmen. Es gilt, einen Diskurs darüber zu eröffnen, wie Leistung in Zukunft definiert wird und welchen jeweiligen Stellenwert sie für die Gesellschaft und deren langfristiges Wohlergehen hat.
2. Man würde mit derlei Debatten nur den Neid schüren, heißt es von jenen, die sich bisher als Leistungsträger definierten. Dabei sind sie es, die über viele Jahre hinweg stillschweigend davon profitierten, dass sich der Neid durch das laute Sündenbock-Geschrei der Rechten in Wahrheit gegen eine ganz andere Gruppe richtete: die Schwächsten der Gesellschaft. Es geht daher nicht um eine Neid-, sondern im Gegenteil um eine Solidaritätsdebatte. Solidarität, mittlerweile gern als naives Gutmenschentum verunglimpft, sollte in Zukunft etwa heißen, dass wir auf das Ablenkungsmanöver – Flüchtlinge, andere Ausländer oder Arbeitsunwillige seien schuld an unserer Misere – nicht länger hereinfallen. Solidarität müsste aber auch heißen, dass die, die von der wachsenden Ungleichheit am meisten profitiert, sie durch ihr fahrlässiges Wirtschaftsgebaren mit hervorgerufen und dabei teilweise riesige Vermögen angehäuft haben, einen Solidarbeitrag leisten.
Wir sitzen alle im selben Boot, heißt es oft. Ja, aber: Die Manager von Österreichs zehn größten börsennotierten Unternehmen verdienten 2018 zwischen € 3,4 und 6,7 Mio. Brutto, also zwischen € 9.300 und 18.300 – pro Tag! Im Vergleich mit US-amerikanischen Spitzenmanagern mag das wenig sein; mit dem zuletzt genannten Tagesgehalt müssen allerdings viele der jetzt gefeierten Systemerhalter fast ein Jahr lang auskommen. Das gern beschworene gemeinsame Boot ist also ein kaum fahrtaugliches Vehikel: auf der einen Seite leckes Schlauchboot, dessen Insassen verzweifelt das eindringende Wasser auszuschöpfen versuchen, auf der anderen schicke Yacht, auf der vielleicht der Champagner knapp wird.
3. Die Finanzelite definiert nicht nur Leistung, sondern auch die Spielregeln für unser gesamtes Wirtschaftssystem. Mittels milliardenschwerem Lobbying ist es dieser Phalanx aus großen Konzernen, Investmentbanken, Private-Equity- und Hedge-Fonds, Rating-Agenturen, Unternehmensberatern und Wirtschaftsanwälten gelungen, diese Regeln rund um den Globus von der Politik in Gesetze gießen zu lassen und sie in den Köpfen der Allgemeinheit sukzessive als „alternativlos“ zu verankern.
Der Versuch, die Welt als Markt und alles in dieser Welt zur Ware zu erklären, hat nicht nur zu schmerzhaften, oft als Modernisierung verkauften Einschnitten in öffentlichen Haushalten geführt, sondern in vielen Fällen auch für eine Pervertierung der Realwirtschaft gesorgt: Bei vielen größeren, im Abstand von wenigen Jahren den Besitzer wechselnden Betrieben geht es offensichtlich schon lange nicht mehr um die Herstellung möglichst qualitätvoller Produkte, sondern darum, möglichst große Profite für Anteilseigner und Management zu erwirtschaften.
Ist diese Art des Wirtschaftens tatsächlich so alternativlos? Ist es alternativlos, dass das System zu einem wesentlichen Teil auf den in Sekundenschnelle getroffenen, oft irrationalen Entscheidungen von Börsenhändlern basiert? Ist es alternativlos, Milliarden mit Wetten darauf verdienen zu können, dass jemand seinen Kredit wahrscheinlich nicht zurückzahlen wird? Dass die dabei erwirtschafteten Gewinne meist nicht dort versteuert werden, wo sie anfallen? Dass sie also in Wahrheit Verluste für alle anderen sind, denen man einredet, man könne sich den Sozialstaat nicht mehr leisten?
4. Die Einsparungen in den öffentlichen Haushalten haben zu einer langfristigen Schwächung des Staates geführt. Selbst sozialdemokratische Regierungen haben dieses Narrativ – Staat ist schlecht, privat ist gut – weitergesponnen: Zuerst wurde der Staat schlechtgeredet, dann seine Leistungen z.B. in der Gesundheitsversorgung durch Einsparungen tatsächlich schlechter gemacht. Dadurch stieg die Rückendeckung für Privatisierungen und Auslagerungen, was wiederum zu einer weiteren Vernachlässigung staatlicher Leistungen führte.
Gerade die gegenwärtige Krise hat jedoch wieder einmal die Wichtigkeit eines funktionierenden Staates vor Augen geführt. Genau jetzt böte sich also die Chance, sich vom geltenden Narrativ zu verabschieden und es durch ein eigenes zu ersetzen. Eines, in dem mit Maß und Ziel eingehobene Steuern als notwendiger Beitrag zum langfristigen Wohlergehen einer Gesellschaft erachtet werden. In dem tatsächliche Wertschöpfung im Sinne der Allgemeinheit statt kurzfristiger Wertabschöpfung zugunsten weniger gefördert wird. Ein Narrativ, in dem nicht der eine auf „die Wirtschaft“, der andere auf „den Staat“ schimpfen muss, sondern jeder verstehen lernt, dass wir alle gleichzeitig Teil der Wirtschaft UND des Staates sind.
5. Die Krise wird viele dazu nötigen, mit weniger auskommen zu müssen als bisher. Für jene, die schon vorher – oft trotz Vollzeitarbeit und bescheidenen Ansprüchen – kaum über die Runden kamen, wird das eine besonders bittere Erfahrung. Anderen wird vielleicht klar werden, dass weniger manchmal tatsächlich mehr bedeuten kann: dass also in Zukunft an die Stelle des kapitalistischen Imperativs „Du musst konsumieren“ das Nachhaltigkeits-Interrogativum „Was brauche ich wirklich?“ treten sollte.
Die gegenwärtige Krise bietet die beste Möglichkeit, darüber und über viele andere Dinge nachzudenken. Über das Verhältnis von Arbeit und Freizeit etwa. Über das Verhältnis von Wirtschaftswachstum und persönlichem Wachstum. Über die Tatsache, dass wir Menschen Teil dieses Gesamtorganismus namens Natur sind, in dem alles mit allem verbunden ist: der Kauf von palmölhaltigen Produkten mit der Brandrodung von Wäldern in Indonesien mit der Verschlechterung des Weltklimas. Das Anlegen riesiger Monokulturen in und der geförderte Export überschüssiger Lebensmittel nach Afrika mit der Zerstörung der Lebensgrundlagen der ortsansässigen Bevölkerung mit deren Auswanderung und Flucht nach Europa.
6. Wenn wir die gegenwärtige Misere auch als Chance sehen wollen, um notwendige Veränderungen herbeizuführen, dann kommt der Bildung dabei ein besonderer Stellenwert zu. In Sonntagsreden wurde ihr – meist zusammen mit der Kultur – dieser ja schon immer bescheinigt. Sorgen wir mit allen zur Verfügung stehenden Kräften dafür, dass diesen Reden auch Taten folgen: Reformen jenseits ideologischer Grenzen, die sich nicht wie so oft als verdeckte Sparmaßnahmen entpuppen, sondern tatsächlich die Zukunft des Landes weit über die nächste Legislaturperiode hinaus im Sinne haben. Kultur und Medien sollten dabei als Verstärker und Multiplikatoren den Bildungsinstitutionen zur Seite stehen.
Martin Horváth, März 2020 | ORF