Der neue Merker, 02 / Februar 2021 Printausgabe, Karl Masek †
Um die „7 leiblichen Werke der Barmherzigkeit“ ging es dem Intendanten-Paar des sirene Operntheaters, Kristine Tornquist und Jury Everhartz. Die beiden begannen vor drei Jahren mit dem ambitionierten Projekt, 7 Kompositionsaufträge für jeweils etwa einstündige Kammeropern zu vergeben, die sich als Leitfaden mit „Barmherzigkeit“ auseinandersetzen sollten.
Anfang September 2020 startete man im F23, der ehemaligen Atzgersdorfer Sargfabrik in der Breitenfurter Strasse, mit tollkühnem Mut. Hatte man doch soeben den ersten Lockdown dieser unseligen Corona-Zeit überstanden. Wie durch ein Wunder kam man mit optimaler Publikumsbeteiligung und einem ausgeklügelten Sicherheits- und Hygienekonzept bis zum 6. Teil (der Print-Merker berichtete mehrfach in den Heften 8/9, 10 und 11/2020).
Das Finale, „Die Verwechslung“ als geplante Kooperation mit WIEN MODERN (4 Aufführungen im November), fiel dann dem 2. Lockdown zum Opfer. Doch man gab nicht auf, machte aus der Not eine Tugend und erstellte eine filmische Version, die nun ab Jänner online auf sirene, youtube, vimeo zu sehen ist. Mit Rückblenden, Nahaufnahmen, was auch zu einer Textverständlichkeit führt, wie man sie selten vorfindet.
Kristine Tornquist sorgt einmal mehr für eine stimmige, auch filmisch gekonnte Realisierung eines Opernstoffes mit Doku-Charakter. Sie glaubt an die Oper als Medium, um Geschichten zu erzählen. Im konkreten Fall geht es um eine Familiensituation des Jahres 1981 in der DDR. Äußerst beengte, karge Wohnverhältnisse. Trostlose, miefige Spießigkeit in Graubraun, Dunkelbeige und Altrosa. Eine Atmosphäre der permanenten, angespannten Angst. Der unter Erich Honeckers Regime leidende Lehrer – er hat seinen Posten verloren - und Familienvater mit Namen Dauter vermisst seine Ehefrau Hedwig.
Günther Strahlegger füllt den vereinsamenden Dostojewski-Leser und Patience-Leger mit beklemmender Intensität voll geduckter Angst und quälender Hoffnungslosigkeit aus. Der Umsturz 1989, der das Regime hinwegfegen wird, ist noch weit entfernt. Warum Hedwig verschwunden ist, bleibt im Dunkeln. Die alte Oma, die schon Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Rote Armee überstanden hat, lebt in derselben Wohnung, welche einer „Tante Ilse“ gehört, die innerhalb der erzwungenen Mehrgenerationen-Wohngemeinschaft in Stasi-Manier vor allem gegenüber dem heran-wachsenden Gustav auftritt (natürlich hat sie auch bereits Hedwig auf dem Gewissen). Der Teenager gerät durch sein lautstarkes und rebellisches Verhalten in die Mühlen des Systems.
Jungtenor Johannes Czernin spielt einen eigentlich introvertierten, eigenbrötlerischen, systemkritischen, aufbegehrenden Jugendlichen, der auch zu Gleichgesinnten kaum Kontakt zu haben scheint. Er dröhnt sich zuhause mit so genanntem „Ost-Rock“ zu – der Radio-Kassettenrecorder ist der wichtigste Einrichtungsgegenstand im winzigen Zimmer, wo es sonst gerade noch Platz gibt für ein Transparent. „FREIHEIT“ steht darauf geschrieben. Gustav wird (gar nicht als Teilnehmer einer Demo, sondern völlig allein) das Transparent irgendwo draussen schwingen und dazu ein Lied im Kassettenrecorder dröhnen lassen. „Please release me / ostseefisch“ wird für Gustav zum Lied, zur „Arie“, zum Protestsong, zur Metapher der Freiheitssehnsucht.
Prompt wird Gustav verhaftet. Er bleibt auch beim Verhör renitent. „Ich habe keine Helfer!“ wird er sagen. Und, vor allem: „Marx sagt, ein Ziel, das ungerechte Mittel braucht, ist kein gerechtes Ziel!“ Folterungen folgen. Die denunziatorische Stasi-Tante Ilse, der er die Verhaftung zu „verdanken“ hat, rührt trotz der flehentlichen Bitten des Vaters keinen Finger für den Neffen.
Dieser landet schliesslich in der Krankenabteilung des Gefängnisses. Dort arbeitet – wie sich rasch herausstellt - Gustavs Retterin, eine sanfte, einfühlsame Krankenschwester, die den Gefangenen barmherzig begegnet. Ein anderer Insasse war verstorben – kurz entschlossen tauscht die Schwester die Daten der beiden Krankengeschichten, sorgt so für eine Verwechslung. Durch den „Wechsel der Identität“ gelingt durch die Entlassung aus dem Spital der Wechsel in den Westen mit der strengen Auflage, kein Wort über Vergangenes zu verlieren...
Komponiert wurde das Libretto der Helga Utz von Thomas Cornelius Desi, Vorarlberger des Geburtsjahrgangs 1967. Die suggestive Musik pendelt zwischen gesprochenen und gesungenen Passagen. Auf größte Textverständlichkeit wird Wert gelegt. Kurze, lakonische Sequenzen wechseln mit elegischen Passagen voll kantabler, berührender Tonalität. Der Beweis wäre wieder einmal erbracht, es ist noch lange nicht alles „wegkomponiert“!
Eine besonders vielschichtige, dankbare Rolle ist Komponist und Librettistin mit der alten Großmutter gelungen. Sie ist mit den Jahrzehnten, in denen sie viel Leid erfahren hat, weltfremd geworden – auch mit allen Anzeichen beginnender Demenz und zunehmender Verwirrtheit.
Wie Ingrid Haselberger ihre Rolle durchlebt, das kann einem in zumindest zwei Szenen die Kehle zuschnüren. Wenn sie im Fotoalbum blättert und feststellt, dass sie Hedwig schon so lange nicht gesehen hat (begleitet von erdfernen, unwirklichen Streicherklängen, die Erinnerungen aus unendlich ferner Zeit suggerieren) – und vor allem die Szene, als sie den verschollenen Gustav suchen möchte, einen Korb mit Nahrhaftem füllt, dazu, als wäre Gustav noch ein kleiner Bub, das Kinderlied „Häschen in der Grube“ anstimmt, und dann mit Mantel, rotem Schirm und rotem Käppchen (!) das Haus verlässt- und dabei von Stasispitzeln aufgegriffen wird...
Katrin Targo ist mit scharfen Soprantönen eine bis in die Haarspitzen böse und dabei auch ziemlich vulgäre Stasi-Type. Am anderen Ende der Gefühlsskala ist Marelize Gerber mit seraphischem Sopran die barmherzige und entscheidungsstarke Krankenschwester, die mit selbstlosem Handeln einem Menschen das Leben gerettet, damit aber vielleicht sogar das eigene Leben gefährdet hat.
Gebhard Heegmann ist der Gefängnisdirektor von verstörender Brutalität und ebenso verstörender Sprach-Losigkeit. Kari Rakkola und Bärbel Strehlau sind die monströsen Helfershelfer eines ebenso monströsen Unrechtssystems.
Von starker Wirkung die filmisch-theatralische Ausstattung (Markus Liszt, Michael Liszt, Katharina Kappert, Vladi Tchapanov, Theresia Hausner) und das inspirierte Oesterreichische Ensemble für neue Musik unter der souveränen Leitung von François-Pierre Descamps.
Der musikalische Abgesang: In diesem oratorischen Schlussbild versammeln sich alle Mitwirkenden zu einem choralartigen Tableau, das fast an J.S. Bach gemahnen könnte. Eindrucksvoll! Berührend! Unbedingt sehenswert (sirene, youtube, vimeo)! Damit es „unter die Leute“ kommt!