Oper in Wien, 04.09.2020, Dominik Troger
Schwarze Komödie der Barmherzigkeit?
Endlich spielt es wieder Oper in Wien. Und nach einem halbem Jahr pandemie- und ferienbedingter Absenz wird passenderweise gleich zur „Verbesserung der Welt“ aufgerufen. Das sirene Operntheater hat sich diesmal in der aufgelassenen Sargerzeugung Atzgersdorf eingemietet. Schon die Anreise eröffnet neue Perspektiven.
Wien ist groß. Wien wächst. Gleich neben dem seit fünf Jahren bestehenden Kulturzentrum F23 gibt es eine riesige Baufläche. Die Anfahrt mit der Autobuslinie 62A vom Schedifkaplatz Wien-Meidling führt einen vorbei an neuen Wohnsiedlungen, Industrieflächen und Resten altdörflicher Bebauung. Ausgestiegen wird bei der Kunerolgasse, rund 250 Meter sind es dann noch Richtung stadtauswärts zum Spielort.
Das F23 ist einer jener vereinsbetriebenen, an der Peripherie gelegenen „Kulturhubs“, die mit gemischtem Angebot versuchen, rasch wachsenden Stadtteilen auch einen kulturellen Stempel aufzudrücken. Beim genutzten Gebäude handelt es sich laut DEHIO Wien (Ausgabe 1996) um das Areal der Maschinen-, Kisten- und Holzwarenfabrik Koffmann, erbaut in den Jahren 1913 bis 1916. Ab 1966 diente der Standort der Wiener Städtischen Bestattung zur Sargerzeugung. Seit dem Jahr 2015 wird das Gelände als Kulturzentrum genützt, bei dem die „vielfältigen, intersubjektiv-kulturellen Erscheinungsformen in einer sich verdichtenden Stadt im Vordergrund stehen“ (so die Eigendefinition auf der Homepage des F23).
Das sirene Operntheater um Kristine Tornquist und Jury Everhartz hat schon in der Vergangenheit zeitgenössische Oper um große Themenblöcke gruppiert: da gab es die Kurz-Kurz-Opernserien in Form von „Operellen“ oder den Ausflug ins Märchenland von Tausend-und-einer-Nacht, das Hineintauchen ins Leo Perutz’sche Prag oder eine Krankenhaus-Trilogie. Diesmal hat man sich an den sieben Werken der Barmherzigkeit orientiert: Hungrige speisen, Dürstende laben, Fremde beherbergen usf. – thematische Anknüpfungspunkte für sieben neue Kammeropern, die von September bis November 2020 im F23 uraufgeführt werden.
Das sirene Operntheater hat es sich mit dieser Themenwahl nicht leicht gemacht. Der Weg von der Barmherzigkeit zur „Verbesserung der Welt“, wie sie das Cover des dicken Programmbüchleins in Versalien verspricht, ist weit. Barmherziges Handeln mag Nöte lindern, aber schafft es diese Nöte auch aus der Welt? Den Weltverbesserern wird hingegen nicht immer Gutes nachgesagt. Thomas Bernhard hat den „Weltverbesserer“ in einem Theaterstück verewigt – und es überrascht, dass dieser naheliegende Anknüpfungspunkt im Programmbuch nicht erwähnt wird. Aber vielleicht eignet sich der Bernhard’sche Weltverbesserer zu wenig als „Sympathieträger“?
Aus dieser Sicht macht das Tandem mit der Barmherzigkeit Sinn. Der große Anspruch der „Weltverbesserung“ beruht dadurch zu allererst auf alltäglichen Handlungen einer „persönlichen“ Barmherzigkeit, setzt auf Mosaiksteinchen des Guten, die angesichts breitgestreuter gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Problemfelder für den Einzelnen noch machbar und leistbar sind. Und ergeben mehrere Einzelne nicht schon eine kleine, vielleicht in die Zukunft wachsende Vielheit?
Barmherziges Handeln schließt seit dem Kirchenvater Laktanz eine würdige Bestattung der Toten mit ein, wie er sie selbst in seinen „Göttlichen Unterweisungen“ aufgezählt hat – und dieser würdigen Bestattung der Toten war die erste Kammeroper dieses neuen sirene-Opernzyklus gewidmet. Zu ernst wollte man das Thema offenbar nicht behandelt wissen und würzte diesen Akt der Barmherzigkeit mit einer Prise schwarzen Humors und gab ihm den Anstrich einer „politischen Komödie“ – spielt die Handlung doch auf mögliche und tatsächliche Entwicklungen im gegenwärtigen Russland an. Die Kammeroper in fünf Szenen – Musik Alexander Wagendristel, Libretto Dora Lux – ist mit „Ewiger Frieden“ übertitelt. Es handelt sich um den Namen eines Bestattungsinstituts, und er verweist mit werbewirksamem Pathos auf die Geschäftstüchtigkeit solcher Unternehmen, die mit dem Tod merkantile Erfolge feiern. Schukow und Schukin, die beiden Proponenten des „Ewigen Friedens“, beherrschen ihr Metier und wissen ihre (sau-)teuren Dienstleistungen und Särge mit arioser Behübschung anzupreisen. Sie bilden das „Buffopaar“.
Anastasia verkörpert als Soldatenwitwe zuerst den tragischen Aspekt. Ihr Mann ist in einem Krieg gefallen, den es laut offizieller Staatsmeinung gar nicht gibt. Schukow und Schukin versuchen, ihr ein entsprechend stattliches Begräbnis schmackhaft zu machen. Als die beiden daran gehen, die Leiche für das Begräbnis herzurichten, meldet sich diese plötzlich selbst zu Wort. Der tote Soldat äußert in einer makabren Szene die Umstände seines Todes – worauf der Sarg mit der renitenten Leiche von Schukow und Schukin gleich wieder zugenagelt wird. Als Schlusspointe sagt die Witwe das Begräbnis ab. Sie behauptet, der Sarg sei ohnehin leer, ihr Gemahl in geheimer Mission unterwegs. Als Beweis dafür dient ihr der Umstand, dass ihr die Behörden das Gehalt des Gatten weiter ausbezahlen. Und der Sarg ist tatsächlich leer, als er von Schukow und Schukin erneut geöffnet wird. Fazit: Der Staat ist im Besitz der absoluten Wahrheit, selbst wenn es um den „Ewigen Frieden“ geht. Seitens der Regie (Kristine Tornquist) wurde noch der Tod als eigene Figur hinzugefügt: Er erwies sich mehr als redlicher Bühnenarbeiter denn als unheimliche Projektionsfläche des anvisierten „schwarzen Humors“.
Die Aufführung fand in einer größeren Halle statt: an der einen Seite auf einem Podium das Orchester, dann die einfach dekorierte Spielfläche (rechts ein Baum, links das „Büro“ des Bestattungsinstitutes). Daran knüpfte sich die aufsteigende Zuschauertribüne, dahinter war das Regiepult situiert, darüber an der Wand eine Projektion der Dirigentin, um die Protagonisten zu unterstützen. Die Personenführung war von gewohnter Qualität. Eine widerborstige Übertitelungsanlage verursachte am Beginn einige Unruhe in der Technik, aber sie wurde bald zur Mitarbeit überredet.
Der Gesamteindruck blieb jedoch zwiespältig – eine gute Aufführung, aber doch recht harmlos für die anvisierte „Weltverbesserung“: zu wenig anekdotische Schärfe und/oder zu wenig mitfühlende, für die Barmherzigkeit brennende Emphase? Hätte man sich für eines von beiden entscheiden sollen? Die Musik hat diesen Gesamteindruck nicht wirklich abgeschwächt, obgleich sie von einer parlandohaften Regsamkeit getrieben wurde, mit einigen ariosen Passagen durchsetzt. Sie war von einer grotesken, fast schon burlesk zu nennenden Grundhaltung geprägt, die mit rhythmischen Effekten und auch lautmalerischen Einsprengseln wie Telefonklingeln oder militärischem Trommeln angereichert wurde. Manch „verklausulierte“ russische Weise sorgte für folkloristische „Untertöne“, aber nur selten taten sich innigere oder doppelbödige Passagen auf – wie jener kurze Anflug von Trauer in zerfasernden filigranen Streichertönen über den Zustand des Hier und Jetzt im Finale.
Vom Ensemble ist zuerst Evert Sooster zu nennen, der in einigen Momenten als Schukin vom Komponisten zu fast schon Jochanaan’schem Pathos angetrieben wurde, in denen die Groteske dann seltsam über sich hinauswuchs. Robert Chionis war diesem Schukin ein passender Assistent. Tehmine Schaeffer gab eine mit ihrem Sopran Mitgefühl weckende, am Schluss fast geschäftstüchtige Anastasia, die angesichts des weiter bezahlten Gehalts nur zu gerne an das Weiterleben ihres Mannes glaubte. In der Doppelrolle als aus einem TV-Apparat zu seinem Volk sprechender Präsident und als verstorbener Soldat kam Gebhard Heegmann zum Einsatz – alle sowie das zwölfköpfige Orchester (Akkordeon, Klavier, Klarinette, Gitarre, Percussion, Streicher) wurden von der Dirigentin Antanina Kalechyts sicher durch den Abend geführt.
Für das Rahmenprogramm hat man die Genossenschaft für Gemeinwohl an Bord geholt, die im Foyer einen Buchstand zur Gemeinwohl Ökonomie betreibt und die als Spiritus rector einer vom früheren Klangforum-Intendanten Sven Hartberger kuratierten Diskussionveranstaltung fungiert, die die Finger auf so manch schwärende Wunde unserer konsum- und geldgetriebenen Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse legt. Diese Diskussionen finden jeweils vor den Vorstellungen statt, interviewen mit der jeweiligen Problematik befasste Personen und beginnen um 19 Uhr. An diesem Abend wurde über die Flüchtlings- bzw. Migrationskrise des Jahres 2015 und ihre Auswirkungen referiert. Nach dem Ende der Diskurses gab es eine rund halbstündige Pause, Opernbeginn war 20.30 Uhr, das Ende der Vorstellung lag vor dreiviertel Zehn. Der Bus um 21.53 Uhr Richtung Meidling konnte noch bequem erreicht werden. Die Aufführung selbst war gut besucht. Es wurde am Schluss stark applaudiert und es gab Bravorufe. Hingegen ist das Interesse an der Diskussionsveranstaltung seitens des Publikums noch stark ausbaufähig. Die letzte Vorstellung von „Ewiger Frieden“ geht am 4. September über die Bühne, die nächste Uraufführung folgt am 14. September 2020 an derselben Lokalität.
P.S.: Persönlich habe ich während der ganzen Vorstellung eine FFP2-Maske getragen. Es war auszuhalten und wog einen in Sicherheit, ideal war es nicht.