Oper in Wien, 13.01.2021, Dominik Troger
Der Startschuss zum Kammeropern-Festival „Die Verbesserung der Welt“ erfolgte Anfang September in einer ausrangierten Fabrikshalle in Wien-Atzgersdorf – der Zieleinlauf ist jetzt auf Youtube zu sehen.
Mit dem Zyklus „Die Verbesserung der Welt“ hat das sirene Operntheater in sieben, jeweils rund eine Stunde langen Kammeropern, den sieben leiblichen Werken der Barmherzigkeit nachgespürt. Der Zugang war kein dogmatischer, der Zusammenhang nicht immer so deutlich zu erkennen wie beim siebten Stück: „Die Verwechslung“. Diese Kammeroper ist dem barmherzigen Umgang mit Gefangenen gewidmet. Schreibt doch der Kirchenlehrer Laktanz in seinen „Epitome divinarum institutionum“, dass es ein großes Werk der Barmherzigkeit sei, Gefangene vom Feinde loszukaufen. Laktanz hat seine Ausführungen im frühen 4. Jahrhundert nach Christi Geburt gemacht, sein Aufruf zur uneigennützigen menschlichen Hilfeleistung ist aber nach wie von brennender Aktualität.
„Die Verwechslung“ entführt das Publikum in die Deutsche Demokratische Republik des Jahres 1981. Der Teenager Gustav sehnt sich nach Freiheit, gerät in die Mühlen des Systems, kommt ins Gefängnis, wird gefoltert, und schafft es dank einer im Spital erfolgten Patienten-Verwechslung in den Westen. Damit verknüpft ist eine Familiengeschichte, die zwischen den Polen Denunziantentum und zivilem Aufbegehren situiert ist.
Sechs Uraufführungen konnten vom sirene Operntheater wie geplant umgesetzt werden, die für Mitte November geplante Uraufführung der „Verwechslung“ fiel aber der kulturverneinenden Wirkung der Pandemie zum Opfer. Die vier angesetzten Vorstellungen mussten abgesagt werden. Doch die „Opern-Sirenen“ machten aus der Not eine Tugend, und das Team um Regisseurin Kristine Tornquist hat sich filmischer Mittel bedient, um dem gesundheitspolitisch bedingten „Sperrvermerk“ zu entkommen. Anfang 2021 wurde die adaptierte Fassung der Kammeroper online gestellt.
Anhand dieser Lösung lässt sich der allgemeine covidbedingte Trend zur „Virtualisierung“ ablesen, der seit bald einem Jahr den ganzen Kulturbereich erfasst hat. Damit einhergehende Medienbrüche verändern erzwungener Maßen die Wahrnehmung des Publikums und sprengen die Genregrenzen. In diesem Fall wird den Zuschauern schnell klar, dass es sich nicht einfach um eine „abgefilmte“ Bühnenaufführung handelt. Die visuelle Wahrnehmung wird plötzlich von Nahaufnahmen beherrscht, es sind Rückblenden vorhanden, ungewohnte Perspektiven eröffnen neue Einblicke, Schnitte verdichten die Szenenabfolge, dezente Zeitlupeneffekte dienen der Hervorhebung. Die Aufführungssituation selbst tritt in den Hintergrund. Verbunden mit dem noch anzumerkenden szenischen Setting mutierte die Kammeroper quasi zum „dokumentarischen Fernsehspiel“.
Die Szene und die Kostüme versuchen, das Ambiente historisch nachzustellen: das alte Telefon, der Radiorekorder, die Kleider, die Farben – lächelt nicht sogar Genosse Honecker im Krankenzimmer von der Wand? Es schaut ein bisschen aus, als habe man mit Google nach Bildern von DDR-Wohnungseinrichtungen gesucht – das Libretto (Helga Utz) inbegriffen. Die hohe Textdeutlichkeit unterstreicht den dokumentarischen Charakter: Komponist Thomas Cornelius Desi hat auf Sprechgesang gesetzt, der sich opernhafter „Allüren“ weitgehend versagt. Es gibt ein paar Stellen, die man im weitesten Sinne als „Arien“ bezeichnen könnte. Das „please release me / Ostseefisch“, in dem sich die Freiheitssehnsucht des Teenie Gustav ausdrückt – Freiheitssehnsucht vom Radiorekorder untermalt – mischt „Ostrock“ mit „Orff“ und entwickelt sogar Ohrwurmqualitäten. (Das hätte man ruhig noch einmal im Finale bringen können, um den Freiheitsgedanken zu beflügeln – vielleicht mit einem variierten Text.)
Im kompositorischen Stilmix finden auch füllige Streicherklänge ihren Platz, die Omas Erinnerungen gefühlvoll unterlegen. Aber bleibt von solchen Erinnerungen, die Krieg und Nachkriegsjahre umfassen („ich habe die Faschisten überlebt / die Rote Armee“), wirklich nur streicherselige Melancholie zurück? Der naive, fast einfältige Glaube an das Gute dieser Figur wird dadurch allerdings treffend charakterisiert, genauso wie mit dem nachfolgenden Kinderlied, das sich allerdings schon gefährlich der Kitschgrenze annähert. Das Schreibmaschinengeklapper, das die Verhörsszene begleitet, bringt hingegen die sachlich-unbarmherzige Bürokratie des Strafvollzuges in Spiel, und verstärkt mit dieser „Klangerinnerung“ die Historizität.
Erst im Finale wird der dokumentarische Charakter aufgehoben. Es versammelt alle Protagonisten plus Orchester zu einem konzertanten, orgeluntermalten, elegischen Abgesang. Er erinnert an die wichtige Rolle der protestantischen Kirche im politischen Widerstand der DDR – und vielleicht soll man sogar das tröstliche Lächeln eines Johann Sebastian Bach darin erahnen?
Das Ensemble hat sich in die neue Situation samt „Doku-Charakter“ augenscheinlich sehr gut eingefügt. Die Figuren waren gut getroffen – vom langhaarigen, introvertiert gezeichneten systemkritischen Gustav (Johannes Czernin) bis zur weltfremd agierenden Oma (Ingrid Haselberger). Der Stasibeamte (Kari Rakkola) war ein „Klischeebösewicht“ wie aus einem Hollywood-Film. Günther Strahlegger gab intensiv den besorgten, unter dem Regime leidenden Vater, Katrin Targo die zwielichtige Tante Ilse. Marelize Gerber war eine einfühlsame Krankenschwester. François-Pierre Descamps und das Österreichische Ensemble für Neue Musik sorgten für die Orchesterbegleitung.
Eine summarische Bewertung des ganzen „Weltverbesserungs-Projekts“ fällt schwer, weil man dazu alle sieben Kammeropern gesehen und gehört haben müsste. Nach den im Programmbuch abgedruckten Libretti zu schließen, war der Umgang mit dem Thema ziemlich frei. Ein existentialistischer Zugang wurde eher gemieden und das von den Stücken durchmessene Terrain scheute nicht vor Ausflüge in „seichtere Fahrwässer“ zurück.
Bezogen auf die freie Wiener Opernszene freut man sich über dieses starke Lebenszeichen, noch dazu in Zeiten wie diesen – wie das sirene Operntheater mit seinen oft sehr aktuellen Themensetzungen überhaupt dafür sorgt, dass sich Oper als ganz zeitgemäße Kunstform bewähren darf.
Youtube-Link: „Die Verwechslung“