Online Merker, 08.11.2022, Manfred A. Schmid
René Clemencic: Kosmisch-mystische Erkenntnisse auf musikalischer Himmelsleiter
WIEN / Planetarium: KABBALA trifft auf Milchstraße (Premiere 31.10.22)
„In meinem Oratorium Kabbala soll der Weg der Welt und des Menschen zumindest in einem Äon bis zum Ende der Zeiten anklingen,“ meinte der heuer 94-jährig verstorbene Komponist über sein 1992 für das legendäre Mittelfest in Cividale del Friuli komponiertes Werk. Ein ungewöhlich hoher Anspruch. Ungewöhnlich wie sein Schöpfer, René Clemencic, der als Dirigent, Virtuose auf der Blockflöte, Leiter und Gründer des Ensembles Clemencic Consort für Alte Musik, Wissenschaftler, Schriftsteller und Sammler unvergessen bleibt.
Schon der vollständige Titel des in hebräischer Sprache, nach Texten der prophetischen Kabbala, verfassten Oratoriums – Kabbala oder Die vertauschten Schlüssel zu den 600.000 Gemächern des Schlosses – verweist auf den mystischen Kern der Vorlage. Um diesem gerecht zu werden, setzt Clemencicin seiner Vertonung in erster Linie auf Klang-Symbolik. Die Klänge und Klangkomplexe in dem für fünf Gesangssolisten und sechs Instrumentalisten komponierten Werk sind akustische Zeichen und Chiffren für innere Erlebnisse und Erfahrungen und nähern sich so der Zahlenmystik der Kabbala an. Ein kraftvolles, oft sperriges Werk, das auch meditative Versenkung in die Welt des Geheimnisvollen nicht scheut.
Ein idealerer Ort für eine Aufführung dieses Oratoriums als das Planetarium im Wiener Prater ist kaum vorstellbar, denn wenn das hier Verhandelte bis „zum Ende der Zeit“ aus- und vorgreift, dann ist natürlich auch der Anfang miteinbezogen: der Urknall und die darauffolgende, über Milliarden Jahre andauernde Ausdehnung des Universums, die Super-Novae, Schwarzen Löcher, die Milchstraße: Entwicklungen, die im Planetarium eindrucksvoll vor Augen geführt werden und ehrfürchtiges Staunen hervorrufen. Das erst 13,7 Milliarden Jahre alte Weltall wird in den nächsten Billionen von Jahren noch viele neue Sterne, Galaxien, Planeten und möglicherweise auch neue Formen von Leben hervorbringen, während die Ära des irdischen Lebens vergleichsweise bald ihrem Ende entgegengehen dürfte. Diese Ahnung mag auch der Grund dafür sein, dass das abschließende Stück, „Halleluja / Rückkehr ins himmlische Jerusalem“ gar nicht so fröhlich klingt, wie man es vielleicht erwarten würde. Dem Festival Wien Modern und dem sirene Operntheater sei für dieses außergewöhnliche Konzert und seine außergewöhnliche Location jedenfalls gedankt. Gratulation!
Vor den Vorstellungen – es stehen insgesamt noch sechs Termine im November und Jänner zur Verfügung – gibt es wissenschaftliche Vorträge, die u.a, das Verhältnis zwischen Glauben und Astronomie bzw. Kosmologie ausloten. Auf einen Vortrag sei hier stellvertretend eigens hingewiesen: Am 13. November referiert Christine Ackerl von der Universität Wien über „Wenn Galaxien Walzer tanzen“.
Getanzt wird in Clemencics Kabbala freilich nicht, aber die fünf Gesangssolisten – Nicholas Spanos und Bernhard Landauer (Countertenöre), Gernot Heinrich und Richard Klein (Tenöre) sowie Colin Mason (Bassbariton) streiten und lachen, beten, belehren und diskutieren. Das kann manchmal auch durchaus – vermutlich unfreiwillig – komisch wirken, wenn der Gesang, etwa am Beginn mit Hei-ho ähnlichen Rufen an alpenländisches Jodeln (oder das der nördlichen Samen, wenn nicht gar an die Erkennungsmelodie der Schlümpfe) erinnert. Auch Hundegebell vermeint man an einer Stelle zu vernehmen. Es ist schon ein sehr eigentümlicher musikalischer Kosmos, den Clemencic in diesem Werk entfaltet, wozu auch die Instrumentalisten Gerald Grün (Trompete), Werner Hackl, Peter Kautzky und Christian Troyer (Posaune) sowie Robin Prischink und Adina Radu (Schlagwerk) beitragen, die die oft monoton wirkenden, litaneiartigen Gesänge durch abwechslungsreiche, markige Akzente beleben. Die musikalische Leitung liegt in den Händen des erfahrenen, hochgeschätzten Chorleiters François-Pierre Descamps.
Ein ungewöhnlicher Konzertabend in einem ungewöhnlichen Rahmen. Wie es Wien Modern gut ansteht.