Zweierlei Shisa
Ein Essay von Ann Cotten
Walter Serner schrieb die "Letzte Lockerung", dann verschwand er nach China. Wie war das möglich? Ein kurzer Blick in die Chinesische Philosophiegeschichte macht Serners Verschwinden völlig plausibel. (Ohne aber dabei den Grad des Wunderns zu senken. Das ist der Fehler der westlichen reduktionistischen Auffassung von Erklärung, dass sie die Verwunderung abschaffen oder ersetzen will.)
Man muss so fragen: warum ist in der Chinesischen Philosophie mehr Platz, warum ist die Westliche so eng? Das hängt mit der Interpretationstradition des Aristotelianismus zusammen. Natürlich, in unserem kleinen Zipfel der Welt dachte man, analog zu den IP-Adressen, es wird völlig ausreichen, sagen wir 26 Buchstaben zu kombinieren, um die ganze Welt darzustellen. Außerdem dachte man, man könnte sie verbessern, am besten sogar mit der idealisierten Version ersetzen. Seither leben wir schlotternd in den Charakterpanzern unserer Idealvorstellungen, mit dem Alter zu kleinen Rosinen von Seelen schrumpfend, die in den grandiosen Hallen unserer Ideale bei jeder Schieflage herumkullern.
Warum auch immer, der Anspruch der die Welt ersetzenden, spiegelnden oder wiederholenden Darstellung kam so im Osten nicht auf, nicht in dieser Zentralität. Nicht dass es keine Mimesis gab, aber einige Einstellungen sind anders. Statt Ähnlichkeit und Verbesserung als (eigentlich widersprüchliche) Zielsetzungen ist es die Geste, mit der sich eine Kalligraphni, Schriftstellerni, Sängerni zur Umwelt stellt, die an allen Künsten geschätzt wird. Der Kommentar war die gängige Form schriftlicher Äusserung und Kommunikation unter Gelehrten. Also, es war immer schon etwas da, eine Landschaft, in der man spazieren ging, die man mit der Beschreibung akzentuierte. Es wurde nicht angenommen, dass das Vorige dadurch ausgelöscht oder "ungültig" werden müsse. Streite fanden statt; sie waren Streite verschiedener existierender Menschen und ihrer im selben Raum existierenden Sichtweisen. Wer sie verfolgt, bekommt eine Art Doppelblick, der das Gefühl für die Wirklichkeit lehrt.
Ich kann kein Chinesisch, nur ein bisschen Japanisch, und in letzter Zeit beschäftige ich mich mit einer wichtigen Theorie von Karatani Kôjin, dem Begriff Parallax. Parallax ist ein grundlegendes Phänomen räumlicher Physik, das z.B. in der Optik relevant wird. Durch die versetzte Stellung, also die zwei Blickwinkel unserer beiden Augen sind die meisten von uns zu räumlicher Wahrnehmung fähig – die anderen kompensieren dies durch Sachwissen. Karatani greift in seinem Buch Transcritique diesen Begriff auf – und hier muss man sich die Schriftzeichen anschauen und zweierlei "Shisa" kennenlernen.
Parallax heißt 視差 - aufgeschlüsselt: Blick-Unterschied. Auch "Shisa" ausgesprochen wird das Wort 示唆, ein Hint, ein Hinweis, Zeichen. Wie diese Homonymie anzudeuten scheint – mit gebotener Vorsicht – kann man erkenntnistheoretisch unterschiedliche Blickwinkel und dessen Effekte als Hilfsmittel für die Konstruktion einer mehrdimensionalen Wirklichkeit benutzen, und die Effekte, in denen die Spur eines anderen Blickwinkels, einer, vielleicht, anderen Subjektivität in unsere Aufmerksamkeit treten, kann man als Zeichen oder Hinweise auffassen. Das könnte die Mode sein, die eien Gegenüber trägt, die irgendwie etwas von derssen Art, in der Welt zu sein, berichtet, oder ein Ton in der Stimme, ein Lichteinfall, der den Stand der Sonne anzeigt, ein seltsames Licht, das vor einem seltsamen Wetter kommt – die Welt ist voller Zeichen, die Spuren und Weiser sind zu einer größeren Wirklichkeit als der einerm selbst bis jetzt vertrauten. Man darf die Interpretation – die Wegerklärung – nur nicht übereilen, sondern den Weiser vielleicht eine Weile offen im Gedächtnis behalten, weitere Hinweise sammelnd, bis sich die Konturen eines für einen selbst neuen Teils der Welt versammelt haben, gleichsam angezogen von diesem ersten, lockvogelgleichen Weiser.
Solche Zeichenleserei geht freilich auch innerhalb eines geschlossenen Kanons wie des Alphabets oder des Periodensystems der Elemente. Und tatsächlich reichen die Rekombinationen von 26 Buchstaben allein schon weit über das Fassungsvermögen eines Menschenlebens hinaus. Umso mehr tun das die 64 Silben der japanischen Einteilung, oder gar die um 4 Töne erweiterten chinesischen Laute. Wenn mithilfe graphischer Schriftzeichen – und dessen eben nie ausschließenden Systematiken – Kombinationen für den täglichen Gebrauch markiert werden, dann ist es etwas irreführend, sie als abbildend misszuverstehen. Sie sind ikonisch, haben eine kodfizierte Beziehung zu einander und zur Wirklichkeit – in der sie kommentierend stattfinden, die sie nie ersetzen. Man kann an so etwas wie Pfeile oder Wegweiser denken, die ersten bekannten Aufzeichnungen von Menschen, die in die Umwelt eingeschrieben waren und eine mögliche Interpretation für Nachkommende ein wenig betonten oder bestätigten. Etwa an einer Weggabelung, wo jedre zweifeln wird. In anderen Fällen könnte eine Zeichnung aus der vielförmigen Erscheinungsweise des Glücks in Form von Jagdtieren eine günstige unter den Möglichkeiten herauslocken, an einen Ort locken.
Bei 示唆 ist das erste Zeichen "zeigen", das zweite "locken". Wer läse denn auch nur eine einzige Zeile, wenn es siehn nicht lockte – wie die Aussicht auf einen Blick hinter einen Vorhang, den keine Menschenhand, nur der Wind leicht bewegen kann?