Falter, 29.11.2023, Matthias Dusini
Tranquilizer statt LSD: Kurt Schwertsiks Revue „Alice“ im Odeon
Mit dem 1865 erschienenen Buch „Alice im Wunderland“ widmen sich das Serapions Theater und das sirene Operntheater in einer Wien-Modern-Produktion einem der populärsten Stoffe der Literaturgeschichte. Die Musik zu „Alice. Eine phantastische Revue“ komponierte Kurt Schwertsik, für die Textauswahl zeichnet Kristine Tornquist verantwortlich. Das Serapions Theater entwickelte in den 1980ern eine Form des Tanztheaters, das mit poetischer Symbolik Stimmungen evoziert. Regisseur Max Kaufmann, Sohn der Serapions-Gründer Ulrike Kaufmann und Erwin Piplits, bleibt diesem Vokabular treu.
Das Ensemble übersetzt die Vorlage in einzelne Szenen, die Alices Abenteuer erzählen, etwa die Begegnung mit dem weißen Hasen oder der Grinsekatze. Die von Ana Grigalashvili gespielte Alice streckt und duckt sich, um jene albtraumhaften Schrumpfungen und Dehnungen anzudeuten, die die Romanfigur erlebt. Durch einen Kunstgriff verbinden Kaufmann und seine Regiepartnerin Kristine Tornquist Performance und Oper. Die Sänger singen, während die Tänzer synchron die Lippen bewegen. Mithilfe optischer Effekte versucht das Stück, den psychedelischen Sog der Vorlage zu imitieren; surrealistische Kostüme schließen an deren Skurrilität an. Doch insgesamt fügt die Inszenierung den zahllosen Bearbeitungen, die in Kino, Theater oder Comic bereits stattgefunden haben – zuletzt in Tim Burtons „Alice im Wunderland“ (2010) –, nichts Originelles hinzu. Für Kinder ist der Abend zu langatmig, für Erwachsene zu wenig abgefahren. In zäher Nuancenlosigkeit reiht sich ein Bild ans andere, ohne die von Buchautor Lewis Carroll intendierte Ichauflösung zu vermitteln.
Das Rote Orchester unter der Leitung von Dirigent François-Pierre Descamps gibt Schwertsiks Klangwölkchen Struktur. Anders als das Original erinnert „Alice“ allerdings weniger an einen Albtraum als an ein friedliches Schläfchen, in dem die Vorstellungskraft unterfordert wird. Schwertsiks Revue wirkt nicht bewusstseinserweiternd, sondern wie eine Flasche schwerer Rotwein.