OPERN∙NEWS, 24.11.2023, Walter Weidringer (Code: crazy95)
Absurd und tonal in trügerischem Gelände
Uraufführung im Rahmen von Wien Modern: Max Kaufmann und die Librettistin Kristine Tornquist inszenieren im Odeon-Theater «Alice» von Kurt Schwertsik nach Lewis Carroll.
Ein Mädchen kauert am Boden, wortlos und starr. Doch dann wird es von einer Schar Neugieriger entdeckt: Sie tragen Perücken und uniformes, körperbetontes Schwarz, mit in Weiß aufgemalten Jackenrevers und Hemdkrägen, und sie wuseln wie eine Herde herum, die von einem gemeinsamen Bewusstsein gesteuert wird: Das choreografierte Ensemble des Serapionstheaters ist da am Werk, inszeniert von dessen Leiter Max Kaufmann – und liefert zugleich ein Vorgriff darauf, dass später bekanntlich vermenschlichte Tiere und lebendig gewordene Dinge die Bühne bevölkern werden. Zuerst jedoch wird das Mädchen misstrauisch beäugt und angestupst, dann begutachtet, nach irgendwelchen Listen geprüft – und schließlich mit gekritzelten, offenbar wohlwollenden Notizen bedacht. Handelt es sich vielleicht um eine multiple Version des englischen Mathematikers Charles Lutwidge Dodgson? Immerhin war er es, der unter dem Pseudonym Lewis Carroll neben Gedichten insbesondere auch „Alice in Wonderland“ geschrieben hat – entstanden aus einem ursprünglich privaten, maßgeschneiderten Geschenk an Alice Liddell, die 10-jähige Tochter eines Freundes, und dann 1865 veröffentlicht.
Wie dem auch sei: Dieses längere stumme Eröffnungsspiel steht nicht in Kristine Tornquists Libretto und in Kurt Schwertsiks Partitur, aber es nimmt den Stil der gemeinsamen Inszenierung durch Tornquist und Kaufmann vorweg. Traumhaft also beginnt der Abend, und traumhaft wird er bleiben. Soll heißen: Die herkömmliche Welt, die so genannte Realität, sie hängt hier mehr oder minder schief, man möchte das Ver-Rückte geraderichten, aber nirgendwo ließe sich der Bilderrahmen fassen, der sie enthält. Und irgendwann kann man nicht mehr anders, als die Bedingungen einfach zu akzeptieren: Hilft ja doch nichts. Man muss sich auf das Ganze einlassen, auf seine definierten Umstände – und das gilt auch für das Gesamterlebnis dieser Uraufführung von Schwertsiks «Alice» als gemeinsame Produktion des sirene Operntheaters mit dem Serapionstheater im Rahmen von Wien Modern.
Papier ist geduldig, heißt es: Aus Papier und Karton scheint hier alles zu entstehen, in Kladden gesammelt, zu Heften verbunden, dreidimensional aufgefaltet und zu Kostümen gebastelt, in Pappmasché aufgeplustert – ein poetischer Gedanke, realisiert von der Ausstatterin Mirjam Mercedes Salzer. Papier ist auch geduldig, was die enorme Bibliothek an Sekundärliteratur anlangt, die das echte und zugleich vermeintliche, auf so vielen Ebenen faszinierende Kinderbuch hervorgerufen hat: von den Sprach- und Logikspielereien über Parodie und Symbolismus im Werk selbst bis hin zu Forschungen zum Autor, auch seiner viel diskutierten, möglichen Pädophilie. Und auch einiges Notenpapier wurde schon iin Sachen Alice verbraucht: György Ligeti konnte den Plan einer Vertonung nicht mehr verwirklichen, Unsuk Chins preisgekrönte Oper kam 2007 in München heraus, u.a. mit Gwyneth Jones als Herzkönigin; außerdem existieren diverse Ballettversionen, ganz zu schweigen von zahlreichen Filmen und Serien sowie Echos in Popmusik, Malerei und mehr.
Nun also Kurt Schwertsik. Wenn die Musik des 88-Jährigen endlich einsetzt, eine sich in die Höhe schlängelnde Dreiklangszerlegung, die leitmotivisch für Alice stehen könnte, gefolgt von tiefen, gleichsam im Schlafe atmenden Akkorden, ist man sogar ein bisschen erleichtert, dass die Sache nun wirklich und richtig losgeht. „Revue“ nennt Schwertsik seine Vertonung, für die Tornquist das Buch stark eingedampft hat. Der Begriff soll vielleicht das (dramaturgisch leicht ermüdende) Stationendrama, das sich mit einigen Auslassungen aus der Struktur der Vorlage ergibt, auf eine höhere Ebene verfrachten.
Aber auch musikalisch gibt es Gründe für die Leugnung der Gattung Oper: Alice (Ana Grigalashvili) ist eine nur im Rhythmus festgelegte Sprechrolle und viel passiver als im Buch; ein Gesangssextett (Romana Amerling, Solmaaz Adeli, Armin Gramer, Gernot Heinrich, Andreas Jankowitsch, Steven Scheschareg) reiht sich szenisch famos ins Serapions Ensemble ein und synchronisiert dazu die reinen Schauspielrollen. Das Wachsen zur Riesin als Schattenspiel, der Tränensee als Mischung aus Tuch und Papierblatt mit praktischen Schlitzen, das Grinsen der Cheshire Cat, gebildet aus den Köpfen der Darsteller – lauter hübsche Ideen, wenn auch gewisse Bühneneffekte mit etwas nervigem Geräusch einhergehen. Das „Rote Orchester“ kümmert sich derweil unter François-Pierre Descamps um die Stimmungsbilder, zarte Lautmalereien und sprechende Instrumentalparts, die sich durch die anspielungsreiche Partitur ziehen – zum Beispiel mit einem stolpernden Fagottsolo für The White Rabbit, das sich auf der Bühne in einer Art von Schnellwaten fortbewegt …
Schwertsiks Musik ist geeignet für lebensklug geborene Kinder und gelernt naive Erwachsene, für Philosophinnen und Spieler, für Freunde des Absurden und Anhängerinnen des Tonalen. Aber wer sagt denn, dass eine Tonika deshalb immer gleich länger als ein, zwei Takte gelten müsste? Das ist das Hintersinnig-Trügerische an dem Werk, dass es gleichsam immer ein Art Hörgeländer bietet, man aber auch mitsamt dem fest umklammerten Geländer in eine ungeahnte Richtung absacken kann – oder auch emporgewirbelt werden. Eine leise Melancholie überschattet freilich alles, nicht nur, wenn das Akkordeon tänzelt – und die Musik bleibt generell eher sanft, manchmal fast zu sanft. Wenn Schwertsik die Traumschleier mitkomponieren wollte, durch die wir das Geschehen wahrnehmen, dann hat er das geschafft. Seine Musik packt oder schubst einen nicht beim Hören, sondern streckt lieber lächelnd die Hand aus. Wer sie ergreifen will, tut’s. Freundlicher Jubel.