Salzburger Nachrichten, 24.11.2023, Sibylle Fritsch (pdf)
Uraufführung von "Alice": Ein Wunderland aus Papier
Die Traumgeschichte von "Alice" wurde als "phantastische Revue" mit eindrücklicher Musik von Kurt Schwertsik uraufgeführt.
Am Anfang tönt die Stille. Sie schlägt wie eine Welle über einer zusammengerollten Frau mit hüftlangen blonden Haaren zusammen. Am Ende schrillt ein Ton und lässt Papierblätter zu Boden taumeln. Dazwischen wird aus Papier Himmel und Hölle gefaltet, wie es die Kinder machen, es wandeln seltsame Figuren in weissen Papierkostümen durch die Szene - ein König mit hoher Krause, aber ohne Kopf, eine Art Raupe mit einer Öffnung wie ein Ofenrohr, aus der mit der Stimme auch Rauch herausdringt.
"Alice. Eine phantastische Revue" heisst die neue Produktion des Wiener Serapiontheaters. Sie wurde am Donnerstag mit dem sirene Operntheater für das Festival Wien Modern in einer Textfassung von Kristine Tornquist, in Coregie mit Max Kaufmann und mit einer eindringlichen, berührenden, witzigen und bilderreichen Musik von Kurt Schwertsik uraufgeführt.
Die Vorstellung basiert auf der traumgepeinigten, vom Absurden, Fantastischen und Unbewussten getragenen Geschichte der "Alice im Wunderland", in der Autor Lewis Carroll 1865 den Surrealismus vorweggenommen hatte. Sie erzählt von einem Mädchen, das in einen Kaninchenbau fällt, plötzlich so gross wird, dass es nicht mehr heraus kann, dann klein schrumpft und verzweifelt zur Normalität zu finden versucht, das vielerlei Wesen begegnet und an den Hof einer Königin gerät, der es Spass macht, Menschen zu köpfen.
Die Inszenierung setzt auf Minimalismus, also auf die Gegenposition zur Disney-Alice. Auf eine riesige Drehscheibe, die sich nur scheinbar bewegt, werden Ornamente, Drehmomente und eine Uhr projiziert. Sie ist der Ort des Unbewussten für die tanzende, laufende oder sich drehende Alice (Ana Grigalashvili), die so lange nicht abspringen kann, wie sie im Traum verharrt. Verglichen mit plötzlich hochgezogenen Türen aus Papier wirkt sie klein, im Lichtkegel wirft sie einen überdimensionalen Schatten. Begleitet wird sie von schwarzbefrackten Gestalten, die sich - als Hofstaat der weissen Krinolinen-Königin - zu Knäueln verbinden oder gemeinsam die "Grinsekatze" bilden. Immer wieder tauchen Kaninchen, Maus, Frosch, Fisch, sprechende Blumen, Herold und andere (Alb-)Traumgestalten in weissen Papiergewändern auf und betanzen oder umrunden die Scheiben mit akrobatischen Schrittmustern.
Die Kostüme von Mirjam Mercedes Salzer erinnern an eine Mischung aus Oskar Schlemmers Triadischem Ballett und Papierobjekten von Tone Fink und tun sich doch schwer, den dominanten Bühnenraum zum Bühnenbild zu machen. Der Abend lebt von der Idee des Bilderbuchs mit aufklappbaren Szenen.
Viel Applaus - auch für die Sängerinnen, wie Mezzosopran Solmaaz Adeli und Countertenor Armin Gramer, den umsichtigen Dirigenten François-Pierre Descamps und seine 27 Instrumentalisten.