Clubnachrichten, Club der Wiener Musikerinnen, Nr. 125, 4/2023, Dezember, Georg Hauer
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Uraufführung von „Miameide“ im Jugendstiltheater
WENN DER WUNSCH ZUR WIRKLICHKEIT ERKLÄRT WIRD

Viele Operninhalte haben sich von der Möglichkeit einer realen Handlung weit entfernt. Vielleicht auch deshalb, weil Realität nicht ausschlaggebend ist für eine von Musik beherrschte Kunstform. Im Idealfall bleibt Sprache eine bruchlose Grundlage für musikalische Gestaltung, und das noch lange bevor der erste Ton auf dem Notenpapier steht. Also ein „Gesamtkunstwerk“ von Text und Musik? Ein großes Wort soll nicht voreilig Lob streuen. Doch dürfte dem sirene Operntheater mit seiner Uraufführung im Jugendstiltheater Wien diese Synthese von Wort und Ton auch im künstlerischen Gegenwartsbetrieb gelungen sein.

Die Kammeroper „Miameide“ mit der Musik von Julia Purgina und dem Libretto von Kristine Tornquist zeigt das Schicksal der Pflanzen vor dem Hintergrund einer von wirtschaftlichen Interessen und Notwendigkeiten geprägten Welt. Eine vor allem ethisch-philosophische Auseinandersetzung mit dem Thema, dem bei aller „Modernität“ das Streben nach Poesie nicht abhandengekommen ist.

Das Orchester (Ensemble PHACE) ist auf der Bühne untergebracht und hinter einem durchsichtigen Vorhang schemenhaft zu erkennen. Die Handlung ist auf eine große leere Fläche davor verlegt. Das ist nichts Neues, muß es auch nicht sein, wenn dadurch die Konzentration auf die Aktionen verstärkt wird. Bühnenbild im traditionellen Sinn gibt es keines. Für Lebendigkeit sorgt jedoch ein „Zwischenvorhang“, der Bühne und Handlungsebene trennt. Und hier werden in Projektionen (Julia Libiseller, Germano Milite) Blumen in den verschiedensten Stadien ihrer Entwicklung gezeigt, eine stimmungsvolle ästhetische Ergänzung als reizvoller Kontrast zu manch harmonischen Dissonanzen.

Das führt uns zur Musik. Sie wirkt überzeugend kompromißlos und reicht von zartester Transparenz bis zu engmaschigen Clusterbildungen, allerdings ohne traditionelle Hörer zu verschrecken. Die Partitur gewinnt im Laufe der etwa 75 Minuten dauernden Oper zunehmend an Aussagekraft, um schließlich mit einer beeindruckenden Steigerung für ein wirksames Finale zu sorgen. Das Libretto kommt mit einem Minimum an Handlung aus. Eine Arbeitslose (Mia) hat mit der Stellenvermittlung des Arbeitsamtes kein Glück. Weder in der Blumenhandlung noch in der Gärtnerei kann sie den Blumen, ihren „stillen Schwestern“, ein Leid zufügen. Selbst eine Büropflanze in der Getreidebörse findet ihr Mitleid: „Hier kannst du nicht gedeihen.“ Das Ende erinnert an die antike Verwandlungsthematik bei Daphne. Mia findet den Weg aus dieser Welt: „Durch die Blätter fällt grün das Sonnenlicht auf ihr Gesicht, sie lächelt und verschwindet im Buschwerk.“ Daß es ein Kaktus ist, der ihr diesen Weg weist, mag vielleicht auch als kleine ironische Tragikomik gesehen werden.

Die Gesangsolisten agieren mit großem Einsatz, allen voran Johanna Krokovay als Mia und Romana Amerling als Sachbearbeiterin des Arbeitsamtes. Das Vokalensemble „Momentum Vocal Music“ sorgt unsichtbar hinter der Bühne für lautmalenden Farbenreichtum. Dirigentin Antanina Kalechyts beschränkt sich im wesentlichen auf klare Zeichengebung und setzt auf Akzente und kontrastierende Klangbilder. Für die Regie verantwortlich, unterstreicht die Librettistin Kristine Tornquist gleichsam aus erster Hand die zentrale Aussage der Handlung: „Unser Verstand bewegt sich von der Natur fort, wenn Imagination sich über das Erkennen erhebt, und der Wunsch zur Wirklichkeit erklärt wird.“

Eine utopische Realität also? Jury Everhartz zeigt mit dieser Produktion des sirene Operntheaters dem Musiktheater der Gegenwart neue Wege. Ein Gedankenspiel mit offenem Ausgang......

Die Besprechung bezieht sich auf die Aufführung vom 28. September 2023.

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