Das Marionettentheater

Man muß der Vorstellung eines Marionettentheaters beigewohnt haben, um das anmutige Abenteuer Don Quijotes mit dem Puppenspieler zu begreifen. In der Schenke stand der Puppenkasten, fertig und abgedeckt, mit brennenden Wachskerzchen besteckt, hübsch und glänzend anzusehen, und Meister Peter regierte die Drahtpuppen, während vorn ein junger Mann mit einem Stäbchen auf die Figuren zeigte und die Geheimnisse des Spieles erklärte. Das Drama, französischen Chroniken und spanischen Romanzen entnommen, handelt von der Befreiung der Melisendra durch ihren Gemahl, Herrn Don Gaiferos.

Gaiferos bei dem Brettspiel saß,
Und Melisendra ganz vergaß.

Die Zeitgeschichte spiegelte sich in der kleinen Bühne, Karl der Große und der Rasende Roland gehen über die Szene; der Waffenlärm der Maurenkämpfe hallt nach, und an herzerquickenden Prügeleien ist kein Mangel. Es regnet Hiebe. Gaiferos hat die schöne Melisendra aus der Gewalt der Mauren befreit. Lärm und Getümmel erhebt sich hinter den Fliehenden. Das Maurenvolk. Da konnte Don Quijote nicht länger mehr zusehen. "Nimmermehr werde ich zugeben, daß, so lange ich lebe, vor meinen Augen einem so berühmten Ritter und herzhaft Liebenden wie Don Gaiferos Gewalt angetan werde. Haltet ein, ihr Lumpengesindel." Schrie es und hieb mit dem Schwerte ein, zerschmetterte, köpfte, verstümmelte, zerstückelte, als ob es nicht Puppen wären, sondern ein wirkliches Maurenheer. Sancho Panza beteuerte, nie habe er seinen Herrn so wütend und zornig gesehen.

Dieser tragikomische Ausgang ist durchaus nicht allein der etwas ausschweifenden Phantasie des fahrenden Ritters zuzuschreiben. Wenn der Puppenspieler versichert, sechzigtausend nagelneue Sachen gäbe es in seinem Kasten zu sehen, so war er noch nicht allzu unbescheiden. Er hätte auch sagen können, sein Kasten sei das Reich der unbegrenzten Möglichkeiten. Wirkungen lägen darin verborgen, die von keiner großen Schaubühne erreichbar sind. Ein Puppenspiel ist mehr als bloßes Kinderspiel. Der Geist Don Quijotes lebt darin bis heutigentags.

Während das große Theater immer größere Wirklichkeitstreue sucht und solcherart die Grenzen des Darstellbaren verengert, hält sich das Puppenspiel mit seinen unzulänglichen Mitteln von dem Wettbewerb mit der Wirklichkeit fern zugunsten größerer Illusionsmöglichkeiten. Seine Vollendung liegt in der Unzulänglichkeit. Die Gliederpuppen sind ganz allgemeine Größen, menschliche Gleichnisse ohne Persönlichkeitswert, Symbole. Alle Märchenkünste machen sie wahr. An den Absichten der Dichtung können sie nichts verderben. Sie laufen nie Gefahr, zu vergessen, daß sie bloß Stoff sind, unbelebte Materie, keinen anderen Gesetzen untertan, als jenen ihrer Natur und des Spiels. Sie haben zum Glück für die Darstellung kein eigenes Bewußtsein. Sie haben eine Seele, die physikalisches Gesetz ist und Schwerpunkt heißt, der sich im Innern der Puppe befindet.

Jede Bewegung, jede Erschütterung dieser Seele löst ein rhythmisches Spiel der Glieder aus, pendelartige Kurven, die sie um den Körper beschreiben. So klingt jebe Erregung in Harmonie aus, jede Linie ist Wohllaut, Schritt und Gebärde ist Tanz, sichtbare Musik. Und weil alles auf ganz natürliche, einfache Weise geschieht, liegt eine Unschuld in diesen Bewegungen, die, wie Heinrich von Kleist sagt, nur Körpern zukommt, die entweder gar kein Bewußtsein haben oder ein unendliches, dem Gliedermann oder einem Gott. An Drähten gehoben ist der Gliedermann antigrav, wie ein Gott der Erdenschwere entlastet, von geheimnisvollen Kräften bewegt, und befähigt, Dinge zu verrichten, die dem Sterblichen versagt sind.

Das Wunder, die Sage und wohl auch die Satire fanden im Marionettentheater die überzeugendste Darstellung, und es hat Epochen gegeben, wo die elendesten Figuren mehr Erfolg hatten als die besten Schauspieler ihrer Zeit. Die heiligen Mysterien, Rabelais' Gargantua und Pantagruel, die Faustsage gehörten zum beliebtesten Repertoire und fanden ein begeisterungsfähiges und dankbares Publikum. Goethe, der im Puppenspiel auf der Frankfurter Messe 1773 die lebhafteste Anregung zur Faust-Idee gefunden, spricht noch im Alter mit Wärme von dem kleinen Theater. Die freundlichsten Erinnerungen seiner Knabenzeit gehören dem Puppenspiel an, das ein Freund des Hauses gefertigt und der Familie zum Weihnachtsgeschenk gemacht hat. Ein billiger Stoff ward verwendet; David erschlägt den Goliath. Das Staunen bei der ersten Vorstellung war groß; später kam die Lust des Forschens hinzu. „Wie das zugehe? war jetzt mein Anliegen. Daß die Puppen nicht selbst redeten, hatte ich schon das erstemal gesehen, daß sie sich nicht selbst bewegten, vermutete ich auch; aber warum das alles so hübsch war? Und es doch aussah, als ob sie sich selbst bewegten und selbst redeten. Und wo die Lichter und die Leute sein mochten?“ Die Sehnsucht war mächtig, zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich die Hände im verdeckten Spiel zu haben und als Zuschauer die Freude der Illusion zu genießen. Die kleine Truppe wurde gemustert, König Saul im schwarzen Samtrock mit der goldenen Krone sah steif und pedantisch aus. Jonathan mit glattem Kinn und seinem gelb und roten Kleid und Turban sah artiger aus. Der Prophet Samuel trug einen Leibrock, dessen Schillertaft einem alten Kleide der Großmutter entnommen war. Bald ging's an ein Umgestalten. Die Puppen sollten bewegliche Kleider haben. Man trennte die Läppchen vom Leibe und schaffte eine winzige Theatergarderobe an, wo die Reifröcke der Damen nicht vergessen waren. Auch hier liegt eine Warnung. Der Naturalismus führt über die Grenzen des Spiels, und die Erweiterung der Pläne zerstörte den Grund des kleinen Gebäudes. Das Puppenspiel hat eben auch seine Ästhetik, seinen eigenen Stil.

Daß gerade in dem kleinen Rahmen und mit den harmlosen, primitiven Mitteln sich die ungeheuersten Dinge darstellen lassen, daß Mächte beschworen werden können, die auf der großen Bühne versagen, daß die höchste Kraft im kleinsten Maß liegt, ein ungeheurer Zündstoff, ist eine Erkenntnis, die früh genug aufdämmerte und zu den Verboten führte, welche sich im sechzehnten Jahrhundert sowohl bei den Protestanten als bei den Katholiken gegen die Puppenspiele richteten. Aber gerade damals stand das Puppenspiel in der Blüte und hielt sich bis Ende des 18. Jahrhunderts auf gleicher Höhe.

Schon das hohe Altertum kannte die Gliederpuppen und liebte sie. In Athen war zu Perikles Zeit das Theater des Bacchus der Schauplatz ihrer Handlungen, und Aristoteles beschreibt ausführlich die komplizierten Bewegungen, welche diese Puppen ausführten. Dieser Beschreibung zufolge werden die Glieder an Fäden gezogen, „der Kopf bewegt sich, die Augen wenden sich, die Hände führen die verlangte Geste aus und das Ganze stellt ziemlich vollkommen ein menschliches Wesen dar.“

Es ist leicht möglich, daß die Marionetten zur altheidnischen Gottesdarstellung zurückführen und in den Götzen und Götterbildern ihren Ursprung haben. Soviel steht fest, daß zu Römerzeiten bei den prozessionellen Umzügen unter den großen grotesken Marionetten jene des Manducus bemerkt wurde, ein Schreckgespenst mit großen Zähnen und beweglichen Kinnladen, das, aus dem Range der Götter herabgestürzt, als Nußknacker ein verlachtes und verächtliches Dasein führt.

Der Name Marionette kam indessen erst im Beginne des Mittelalters auf. Seit dem zehnten Jahrhundert fand in Venedig eine jährliche Zeremonie statt, „La festa della Maria“ zur Erinnerung an den von den Piraten verübten Raub von zwölf Bräuten. Die alsbald wieder befreiten Jungfrauen wurden durch acht Tage mit großem Pomp gefeiert. Jedes Jahr wurde die gleiche Anzahl Marien auf öffentliche Kosten ausgestattet. Die Kosten kamen schließlich zu hoch, man beschränkte sich auf vier, und zuletzt begnügte man sich mit der leeren Zeremonie, indem man die Jungfrauen durch Holzpuppen ersetzte. Der Name Maria ging auf die Puppe über und veränderte sich durch die der italienischen Sprache eigentümlichen Diminutive in Marote, Mariotte, Mariole, Mariette, Marion und endlich in Marionette.

Seit dem 12. Jahrhundert ist das Marionettentheater beliebtes Mittel der Volksbelustigung und Erbauung. Der Marionettenspieler wird eine typische Erscheinung der Landstraße. Der primitive Apparat, der von den ältesten Zeiten bis heutzutage im wesenlichen gleichgeblieben, gab dem Volke einen Zeitspiegel für Schimpf und Scherz, im Rahmen der kleinen Szenen eine „affenteuerliche, naupengeheuerliche Geschichtsklitterung", daran der ungewaschene Volkswitz sein Mütchen kühlen und der Weise, der sich an den Torheiten der Welt krank ärgert, sich wieder gesund lachen konnte.

Von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an war das Marionettentheater sogar hoffähig geworden und in den menus-plaisirs Ludwig XIV. kommt ein bedeutender Posten vor für Jean Brioché, dem Puppen=Impresario und Zahnbrecher, zwei Geschäfte, die sich in früheren Zeiten wohl miteinander vertrugen. Der Sohn und Nachfolger, Brioché der Jüngere, trug den Ruhm des Puppenspieles ins 18. Jahrhundert. Die königlichen Schauspieler führten eine kleine Parodie, betitelt: „Brioché oder der Ursprung der Marionette“ auf. Die Szene zeigt das Atelier, wo Brioché seine Puppen fertigt, die da und dort aufgehäuft sind. In der Mitte steht eine Marionette, in die sich der Verfertiger unseligerweise verliebt hat. Seine Pygmalionssehnsucht klagt in den Versen:

L’ouvrage de mes mains une marionette,
donc pu m’enflammer! Ma folie est compléte;
Ah! si j’avais prévu le tort que j'en reçois
Le bois pour qui je brôle, aurait brûlé pour moi.

Er nähert sich dem leblosen Gegenstand seiner Liebe, da setzt eine ungemein sanfte und hinreißende Symphonie ein, die Marionette gewinnt Leben. Allmählich enthüllt sie ihre Gedanken, ihre Gefühle. Zwei Meister hat sie nun: Brioché und Gott Hymen. Wahrscheinlich dürfen wir in ihr die Ahnfrau der Olympia in E. Th. A. Hoffmanns Erzählungen verehren.

Nicht nur für das klassische Theater war das Puppenspiel ein gefährlicher Konkurrent. Auf der Messe zu St. Germain wurde in einer Bude ein wolfähnliches Monstrum mit einem langen Bart und ein Rhinozeros gezeigt. Der Zulauf war ungeheuer. Ein Marionettenspieler bemächtigte sich des Gedankens. Er bildete kleine automatische Figuren nach dem Vorbild dieses lebenden Ungeheuers, ließ unter der Führung des allzeit lustigen Kasperls allerlei Kunststücke ausführen, Pistolenabschießen, Kartenspielen, Wahrsagen. Die künstliche Menagerie fand solchen Beifall, daß der glückliche Besitzer die Bude erweitern mußte, um den Zulauf zu fassen. Er ließ ein Amphitheater bauen mit Logen und Balkons. Aber der empfindlich geschädigte Besitzer der lebenden Kuriositäten, die allen Anwert neben den künstlichen verloren hatten, ließ heimlich die Balken absägen, und am folgenden Tage brach das Gerüst bei übervollem Hause ein. Das frohe Spiel hatte einen tragischen Abschluß gefunden.

Schließlich hatte sich das Puppenspiel die Literatur erobert. Daß Voltaire ein Liebhaber desselben war, will weniger sagen, als daß einer der vierzig Unsterblichen, ein Mitglied der französischen Akademie, es nicht verschmähte, Theaterstücke für die winzige Bühne zu schreiben.

Die heimliche Zauberkraft der Puppen ist mit dem Ergötzen, das sie in volkstümlichen Marionettentheatern den kindlichen Seelen gewähren, noch lange nicht erschöpft. Sie harrt der Wiederbelebung. Wir wissen, daß Maeterlincks mystische Spiele, deren Zartheit und tiefe Symbolik von der Erdenschwere des Naturalismus auf der Bühne geradezu erdrückt werden, keine geeigneteren Interpreten finden können als die Puppen, für die sie ja ursprünglich auch gedacht waren. Aber vielleicht auch Shakespeares Dramen, namentlich die Stücke, wo gleichgestaltete Personen mit raschem Szenenwechsel einander gegenübertreten, wie in der „Komödie der Irrungen“, können im Marionettentheater zu unerhörten Wirkungen gelangen.

Anderseits könnte von hier aus der dem Puppenspiel angeborene Stil des Einfachen und impressionistisch Dekorativen auch für die große Bühne, die im Banne des Naturalismus liegt, zurückwirken, und das sicherlich nicht zu ihrem Nachteil. Ich könnte mir in diesem Stile ein Theater denken, wo große einfache und klare Farben im Hintergrunde stehen, darauf sich die handelnden Gestalten in bleichen Gobelintönen und mit einfachen großen Gesten flächenartig und fast unwirklich und übermenschlich abheben, und die ganze Szenerie eine ungemein sanfte symphonische Begleitung der gesprochenen Dichtung bildet, auf die die ganze Aufmerksamkeit des Zuhörers hingelenkt werden müßte.

Wie es auch damit gehalten werden möge, eine gewisse Gattung von dichterischen Werken, die eine solche Bühne verlangen würde, ist vorderhand nur im Puppenspiel darstellbar. Denn gerade das Erschütterndste, das Übermenschliche, das Tiefsinnigste läßt sich am besten in der kleinsten Projektion und in der größten Vereinfachung begreifen, also im Marionettentheater.

Joseph August Lux, Das Marionettentheater. Deutschland, Monatsblatt für die gesamte Kultur, Berlin 1905