European News Agency, 06.11.2024, Nadejda Komendantova (Bezirkszeitung)
Die Puppe des sirene Operntheaters
Reaktor [ENA] Die Inszenierung von Die Puppe des sirene Operntheaters ist eine gewagte und zum Nachdenken anregende Reise in das Wesen der Künstlichkeit und des menschlichen Ehrgeizes. Die von Kristine Tornquist und dem Komponisten Christof Dienz konzipierte Aufführung erforscht unsere uralte Faszination für künstliche Wesen - von lebensechten Puppen bis hin zu humanoiden Robotern - und ihr Versprechen, die Sehnsucht der Menschheit nach Meisterschaft, Perfektion und Unsterblichkeit zu erfüllen.
Durch eine Verschmelzung von eindringlicher Musik, stimmungsvollen Performances und avantgardistischer Inszenierung konfrontiert Die Puppe das Publikum mit tiefgreifenden Fragen über unsere Beziehung zu Technologie, Kreativität und Selbstidentität. Die Inszenierung beginnt mit einem schlichten und faszinierenden Bühnenbild von Michael Liszt, das einen dunkel beleuchteten Raum zeigt, der von Schaufensterpuppen und Marionetten bevölkert wird, die von Roman und Markus Spiess fachmännisch hergestellt wurden. Diese leblosen Formen rufen sowohl Neugier als auch Unbehagen hervor und ziehen das Publikum in eine jenseitige Arena, in der Schöpfung und Kontrolle ein ständiges Spannungsverhältnis darstellen.
Tornquists Regie verwischt gekonnt die Grenzen zwischen Menschen und ihren künstlichen Gegenstücken und fordert das Publikum heraus, darüber nachzudenken, wo die Grenze zwischen Schöpfer und Schöpfung wirklich verläuft. In Tornquists Konzept für Die Puppe schwingt das Thema der Künstlichkeit und des Ehrgeizes tief mit. Die Puppen dienen als stumme Zeugen des unnachgiebigen Wunsches der Menschheit, sich selbst zu replizieren und ihre Grenzen zu überschreiten. Die Inszenierung unterstreicht dieses Thema auf brillante Weise, mit Schaufensterpuppen, die leblos und doch unheimlich präsent bleiben und unsere Faszination für Wesen symbolisieren, die menschlich aussehen, aber keine Autonomie besitzen. Die Inszenierung erforscht nicht nur die ästhetische Schönheit dieser Figuren, sondern auch die beunruhigende Erkenntnis, dass solche Kreationen auf ewig unter Menschen sind.
Christof Dienz' Partitur für Die Puppe ist sowohl fesselnd als auch beunruhigend, eine sorgfältig ausgearbeitete Klanglandschaft, die die unheimliche Qualität der künstlichen Wesen widerspiegelt. Die vom Ensemble PHACE gespielte Musik mit der wortlosen Gesangsdarbietung von Anna Clare Hauf verschmilzt organische Klänge mit mechanischen Rhythmen. Die Einbeziehung des automatisierten Schlagzeugers von Jakob Scheid fügt eine faszinierende Ebene hinzu und verstärkt das Gefühl der Entfremdung, wenn sich mechanische Beats mit der menschlichen Stimme und den Instrumenten vermischen. Dienz' Kompositionen greifen das Unheimliche auf und spiegeln das Unbehagen der Menschheit gegenüber Wesen wider, die zwar menschlich aussehen und klingen, aber keine organische Seele haben.
Die Partitur unterstreicht die Themen der Inszenierung und spiegelt die widersprüchlichen Gefühle des Publikums gegenüber der Künstlichkeit wider. Mal ist die Musik ruhig, fast meditativ, dann wechselt sie abrupt zu disharmonischen Tönen, die eine unbehagliche Präsenz hervorrufen. Diese Dualität von Dienz' Musik spiegelt die Themen wider, die Tornquist erforschen möchte: die Verlockung künstlicher Perfektion im Kontrast zu der unterschwelligen Angst, dass unsere Schöpfungen uns bald übertreffen könnten. Dienz' Partitur ist eine inspirierte Ergänzung zu Tornquists Vision und verstärkt das thematische Zusammenspiel von Harmonie und Störung.
Die Darbietungen des Serapions Ensembles machen Die Puppe zu einem faszinierenden Erlebnis von Körperlichkeit und Präzision. Jeder Schauspieler, darunter Elvis Alieva, Ana Grigalashvili, Zsuzsanna Enikö Iszlay und andere, führt Bewegungen aus, die die Grenze zwischen Mensch und Puppe verschwimmen lassen. Die Choreografie des Ensembles erforscht die Starrheit und Fluidität von Puppen und schwankt zwischen lebensechter Bewegung und mechanischer Präzision. Sie bewohnen ihre Figuren mit einer unheimlichen Stille und demonstrieren ihre Beherrschung der Bewegung als Mittel der Erzählung.
Tornquists Regie lehnt sich an diese physische Erkundung an und nutzt die Präsenz des Ensembles, um die marionettenhaften Eigenschaften menschlichen Verhaltens zu evozieren, wenn es kontrolliert oder manipuliert wird. Die sorgfältig kontrollierten Gesten der Darsteller schaffen eine Illusion der Begrenztheit, als ob sie nur teilweise menschlich wären, gefangen zwischen Zuständen von Autonomie und Gehorsam. Ihre Darstellung der Künstlichkeit schwingt beim Publikum mit und verstärkt die Erkundung des Künstlichen, des Menschlichen und des Raums dazwischen in der Produktion.
Anna Clare Haufs wortlose, aber emotionsgeladene Gesangsdarbietung ist ein herausragendes Element, das den Menschen mit der Maschine verbindet. Ihre Stimme verschmilzt nahtlos mit Dienz' Partitur und schafft eine zusätzliche Ebene der Entfremdung und Intimität. Haufs Stimme ist geisterhaft und suggeriert eine Seele, die in den Zwängen der Künstlichkeit gefangen ist, sich nach Ausdruck sehnt, aber nicht in der Lage ist, dies in Worte zu fassen. Ihre Präsenz überbrückt die Kluft zwischen den menschlichen Darstellern und den künstlichen Konstrukten auf der Bühne, eine eindringliche Stimme, die die Themen Identität und Autonomie in der Inszenierung unterstreicht.
Die Puppe ist sowohl ein visuelles Wunder als auch ein theatralisches Erlebnis, dank Tornquists gemeinsamer Vision und den Beiträgen des technischen Teams. Das Kostümdesign von Marlen Duken kontrastiert die menschlichen Darsteller mit der künstlichen Ästhetik und kleidet die Schauspieler in gedämpfte, einheitliche Kleidung, die ihre Individualität verwischt. Diese Uniformität verstärkt das Gefühl der Künstlichkeit und unterstreicht die Vorstellung vom „konstruierten Menschen“ als einer Figur, die ihrer Einzigartigkeit beraubt ist.
Die Beleuchtung, für die Jan Maria Lukas verantwortlich zeichnet, ist ein wesentliches Element, um die Atmosphäre der Entfremdung in der Inszenierung zu erzeugen. Lukas' Lichtdesign verwendet Schatten und minimale Lichtquellen, um die unheimliche Qualität der Puppen und der menschlichen Darsteller gleichermaßen zu betonen. Strategisches, flackerndes Licht spiegelt den künstlichen Puls des Lebens wider und beleuchtet die Darsteller in fragmentarischen Ausbrüchen, die den unvollständigen Charakter ihrer Bewegungen unterstreichen. In diesen Momenten wird das Licht zu einem Werkzeug, das enthüllt und verbirgt und die Idee unterstreicht, dass künstliches Leben, egal wie überzeugend es ist, niemals vollständig ist.
Darüber hinaus trägt der innovative Einsatz von Ton und Video durch Germano Milite zu dem Gefühl der Desorientierung bei, das die Produktion durchdringt. Die subtile Integration von Videoprojektionen fügt der Erzählung weitere Ebenen hinzu, indem sie Bilder von menschlichen Gesichtern und Roboterfiguren miteinander verschmelzen und eine Welt andeuten, in der das Organische und das Synthetische praktisch ununterscheidbar sind. Mit Die Puppe präsentiert das Sirene Operntheater eine ebenso herausfordernde wie fesselnde Erfahrung, die das Publikum einlädt, über die komplexe Dynamik zwischen Schöpfer und Schöpfung, Mensch und Maschine nachzudenken.
Tornquists konzeptioneller Ansatz und Dienz' atmosphärische Partitur verschmelzen zu einem Werk, das die zeitgenössischen Ängste über künstliche Intelligenz, Kontrolle und die Frage, was es bedeutet, wirklich menschlich zu sein, aufgreift. Die Inszenierung unterstreicht, dass künstliche Wesen, ob Puppen oder Androiden, trotz aller Bemühungen das Leben nur imitieren können - sie sind nur Schatten des Menschseins, erschaffen, aber nie vollständig verwirklicht. Die Schönheit der Inszenierung liegt in ihrer Fähigkeit, die Kunst als Spiegel zu benutzen, der das unerbittliche Streben des Menschen nach Perfektion und Beherrschung der Schöpfung reflektiert. Die Puppe lässt das Publikum nicht nur die Rolle der künstlichen Wesen, sondern auch unsere Rolle als Schöpfer und Manipulatoren hinterfragen und wirft einen kritischen Blick auf die Impulse, die uns antreiben, „Leben“ hervorzubringen.
Dies ist eine Aufführung, die noch lange nach dem Fallen des Vorhangs nachwirkt, eine hypnotisierende Erforschung der Träume und Ängste der Menschheit durch die Linse des Künstlichen gesehen. Insgesamt ist Die Puppe ein Triumph des modernen Theaters, das Musik, Bewegung und visuelle Kunst zu einer existenziellen Erkundung des Selbst in einer Zeit verbindet, in der die Grenzen zwischen Mensch und Kunst immer dünner werden. Die Inszenierung von Sirene Operntheater fordert uns auf, über unsere eigenen Wünsche und Grenzen nachzudenken, und erinnert uns daran, dass wir uns zwar nach der Perfektion unserer Schöpfungen sehnen, aber niemals den Unvollkommenheiten unserer Menschlichkeit entkommen können.