Neue Züricher Zeitung, 29.11.2024, Stefan Ender

Wien Modern: Da haben wir den Salat!

Es soll Menschen geben, welche die Verknüpfung der Begriffe «Wien» und «modern» als Widerspruch in sich begreifen. Österreichs Hauptstadt gilt nicht nur architektonisch, sondern auch in musikalischen Belangen als eine Grossmacht des Gestrigen. So wie die Zuckerbäckerfassaden der Gründerzeithäuser das Stadtbild prägen, so dominieren die Herren Beethoven, Brahms und Bruckner die Programme der Konzerthäuser, flankiert von den einst ebenfalls ortsansässigen Kollegen Haydn, Mozart, Schubert und Mahler.

Die Freunde gegenwartsnaher Musik erscheinen da wie eine Gruppe Gallier, die sich frohen Mutes gegen die Übermacht des römischen Imperiums behaupten. Das Festival Wien Modern ist ihre zentrale Spielwiese.

Rund 30 000 Menschen besuchen jedes Jahr diese temporäre Enklave. 2024 warteten Werke von über 130 Komponistinnen und Komponisten darauf, an 32 Tagen in 28 Spielstätten Gehör zu bekommen, darunter 50 Uraufführungen. Wien Modern wurde 1988 von Claudio Abbado gegründet. Das Budget ist in der 37. Ausgabe auf 2,24 Millionen Euro angewachsen, dazu trägt die Stadt Wien eine gute Million bei. Verglichen mit diesem Riesen, sind die noch deutlich traditionsreicheren Donaueschinger Musiktage – mit einer Dauer von vier Tagen und 6500 Besuchern – fast ein Zwerg.

Eine Parallele zwischen den beiden Festivals findet sich heuer bei den Mottos. Unter dem Titel «Alone Together» widmete man sich in Donaueschingen im Oktober «dem Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe». In Wien lautete die Parole im November «Und jetzt alle zusammen». Auf welche Weise verbindet Musik die Menschen? Warum reden wir nicht öfter darüber? Diese Fragen standen 2024 im Fokus.

Das Festival für Neue Musik wird seit 2016 von einem gebürtigen Schweizer geleitet, von Bernhard Günther. Zwei Schweizer Künstler bilden heuer auch das Entrée des Veranstaltungsreigens: André und Michel Décosterd machen mit ihren grossen beweglichen Klangobjekten staunen. (...)

Für das Zusammensein sucht sich der Mensch bekanntlich nicht nur seinesgleichen aus, auch Tiere oder Puppen können partnerschaftliche Funktionen übernehmen. In der schönen, neuen Zukunftswelt sollen beispielsweise Pflege- oder Sexroboter tragende Rollen spielen. Im charmant abgewrackten Reaktor in Wien-Ottakring, einem der unkonventionellen Veranstaltungsorte, bietet das sirene Operntheater mit seiner Produktion «Die Puppe» (Idee und Regie: Kristine Tornquist) charmant-skurrile, durch das Serapions Ensemble tänzerisch beschwingte Einsichten in das Miteinander von Mensch und Homunculus, von Geist und Materie. Die aparte, humorbegabte Musik von Christof Dienz, interpretiert vom Ensemble PHACE unter der Leitung von François-Pierre Descamps, rundet die Unternehmung zum eigenwilligen Gesamtkunstwerk. (...)

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