Online Merker, 04.11.2024, Manfred A. Schmid - Der Opernfreund

WIEN / Reaktor: DIE PUPPE – EIN OPEROID von Kristine Tornquist - sirene lässt die Puppen tanzen

3. November 2024 (Premiere 1.11.24)

Der Abend beginnt beklemmend. Auf der Bühne im Reaktor, dem etwas heruntergekommen Ballsaal des ehemaligen Etablissements Gschwandtner im 17. Bezirk, steht im Hintergrund ein riesengroßer, orangefarbener Puppenkopf (Ausstattung Marlen Duken). Eine gehetzt wirkende Frau schiebt einen Schreibtisch vor sich her, über dem ein künstlicher Unterarm schwebt, der, sobald sie sich hingesetzt hat, auf einem Blatt Papier zu schreiben beginnt. Angst und Beunruhigung ist der Frau vom Gesicht abzulesen. Sobald die Musik einsetzt, öffnet der orange Koloss abwechselnd seine Lider und rollt die Augen. Der Mund öffnet sich und speit etwas aus, dass dann, ergänzt durch andere Stücke, die von fünf Personen herangeschleppt werden, zum Bestandteil eines künstlich zusammengesetzten Körpers wird, der allerdings noch von Menschen bewegt werden muss. Gleich darauf kommt aber schon ein sich selbst mit turnerischen Übungen präsentierender, noch ziemlich unförmiger Körper auf die Bühne und tollt übermütig herum. Spaß und die Komik verdrängen immer mehr die beklemmende Atmosphäre des mysteriösen Beginns.

Man taucht ein in die faszinierende Welt der Puppen, Roboter und Avatare. Im ausführlichen, aufschlussreichen Begleitbuch des sirene Operntheaters, das mit dem Serapions Ensemble und PHACE – Ensemble für neue Musik sowie dem Sandkasten Syndidkat diese Produktion für wien modern herausgebracht hat, sind in einem unvollständigen Glossar an die 30 Typen von Puppenfiguren aufgelistet. Kristine Tornquist, Österreichs produktivste und innovativste Librettistin, von der die Idee zu dem Projekt stammt und die auch Regie führt, lässt im weiteren Verlauf einige davon auftreten. Das geht von Spielzeug-Puppen, die man mit sich herumtragen, mit denen man tanzen und deren Haare man kämmen kann, über Schaufensterpuppen, Dummies, zum Üben von Erste-Hilfe-Maßnahmen bis hin zu einem trommelnden Roboter (von Jakob Scheid), der effizient mit dem Musikensemble interagiert, und endet mit Schachfiguren, die von weiblichen Androiden in einer Schachpartie bewegt werden. Ein Duell künstlicher Intelligenzen mit einer Siegerin. Auch eine Sexpuppe wird vorgeführt, die so lange gedrückt wird, bis alle Luft entwichen ist und sie zerknüllt weggeworfen wird. Aber allein schon das Programmbuch ist eine tolle Fundgrube.

Die Tänzerinnen und Tänzer des Serapions Ensembles begeistern mit ihren artistischen wie auch tänzerischen Einsätzen (Choreographische Mitarbeit Bärbel Strehlau). Die Interaktion von Mechanik, Elektronik und Menschen ist verblüffend. Die getroffene Auswahl an Puppen wirkt allerdings willkürlich. Für ein überzeugendes Kunstprojekt fehlt der rote Faden. So bleibt es nur bei einer Aneinanderreihung zirkusähnlicher Attraktionen. Dass die vorgeführten Bestandteile dennoch (fast) zu einem Ganzen werden, liegt an der abwechslungsreichen Musik von Christof Dienz, die zwar auch kunterbunt ist, die herumschwebenden Puppenfiguren aber doch irgendwie erdet. François-Pierre Descamps, der musikalischer Leiter und das fabelhafte PHACE-Ensemble, die zuletzt bei der Festwochen-Aufführung der Oper Miameide im Jugendstiltheater auf der Baumgartner Höhe sowie als Live-Musik bei der Aufführung des Stimmfilms Die Stadt ohne Juden bei den Salzburger Festspielen ihre Qualität in Sachen Neue Musik bestätigt haben, begeistern auch im Puppentheater mit ihrem konzentrierten, lebensvollen Spiel.

Auf Opernbühnen kommen Puppen immer häufiger zum Einsatz. Das geht von Nikolaus Habjans Verdopplung der Salome vor einigen Jahren im Theater an der Wien über die merkwürdigen Kostüm-Avatare in Serebrennikovs umstrittenem Staatsopern-Don-Carlo bis zu den Puppen in der aktuellen Wiener Madama Butterfly von Anthony Minghella. So gesehen kommt TornquistsOperoid“ gerade zu rechten Zeit. Wer sich näher informieren will, kann dies in einer Reihe von Lectures und Vorträgen im Rahmenprogramm zur Aufführung von Die Puppe im Kinosaal des Reaktors in der Geblergasse tun.

Andere Kritiken