Puppen - Kinder und Götter

Hier sitze ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde
Ein Geschlecht, das mir gleich sei
Johann Wolfgang von Goethe in Prometheus

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Sie führen ihre rätselhaften Scheinexistenzen zwischen uns, zahlreich, vielfältig, unübersehbar. Wir haben sie als Kopien unsrer selbst geschaffen, sie wiederum schauen durch ihre künstlichen Augen auf uns und nehmen still Einfluss. Puppen – Imitate, Surrogate, Fetische, Kunstkörper, Dingmenschen, Menschendinger, Modelle, Simulationen und Geister – sind die hybriden, vielgestaltigen, faszinierenden und gespenstischen Begleiter der Menschen seit Beginn der Kultur. Sie sind Spiegel des Unbewussten. Ventile für Emotionen. Wunschmaschinen. Kulturtreibende Kräfte. Ideale und Idole. Und der blanke Horror.

Sie mögen unterschiedliche Zwecke haben, sie alle aber dienen ihren Schöpfern als Gefährten, Sklaven und Götter und verraten drei grosse Begehren der Menschheit: Schöpfermacht, Vollkommenheit, Unsterblichkeit.

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Die ältesten bekannten Figurinen entstanden nach dem Ende der Eiszeit, der Homo sapiens war eben aus Asien in Europa eingewandert. Derzeit gilt die Venus vom Hohle Fels, eine kleine, derb geschnitzte Dame aus Mammutelfenbein aus der Donaukultur, mit 35.000 Jahren als ältestes Artefakt – anstelle eines Kopfes sitzt eine Öse, an der die Figur vermutlich so um den Hals gehängt wurde, dass der Kopf der Trägerin sich mit dem Körper der Figurine verband und damit ein magisches Mischwesen schuf.

Auch die etwas jüngere, kunstvollere Venus von Willendorf aus Kalkstein (etwa 25.000 Jahre) alt, die schlankeren sibirischen Elfenbeinfigurinen (22.000 Jahre alt) oder die wunderschönen, üppigen Mutterfiguren von Catalhöyük, mit 7.500 Jahren vor unserer Zeit bereits nach der neolithischen Wende entstanden, zeigen dasselbe Ideal: Glieder, Kopf oder gar Gesicht scheinen nicht wichtig zu sein, im Zentrum steht der fruchtbare Torso mit riesigen Brüsten, quellendem Bauch und Hintern und oft überdeutlicher Vulva.

Wer hat sie geschaffen? Männer als Zeugen und Bewunderer der natürlichen weiblichen Menschenschöpfungen? Oder waren es Künstlerinnen die sich selbst ein Denkmal setzten? Sollten die Figurinen das Staunen über die Fähigkeit zu gebären in Hyperweiblichkeit festhalten und das Menschen-Erschaffen durch das Puppen-Erschaffen reflektieren? Über den Zweck kann nur spekuliert werden, der überwiegende Teil der Anthropologen hält diese Übermütter für Fetische der Fruchtbarkeit.

Möglicherweise fanden unsere Vorfahren über diesen Schöpfungen zur Idee, selbst ebenso von einem grösseren Wesen geschaffen worden zu sein. Der wegweisende Mythologe Joseph Campbell schreibt in Mythologie der Urvölker über die ältesten Artefakte aus Catalhöyük: Die neolithischen Figurinen von 7.500 v. Chr. sind von einer leichten, natürlichen, lebensechten Anmut und nicht im geringsten ,archaisch‘, primitiv oder steif. Erst im nächsten und abschliessenden Stadium der frühanatolischen Entwicklung (um 5500 bis 4500 v. Chr.) tauchen dann die bekannten leblosen, konventionellen Figurinen von Göttinnen auf.

Die künstlerischen Abbildungen des Individuellen weichen Idolen, Ideen, Archetypen, um vergängliches Leben mit dem unbelebten Unsterblichen zu vermählen - und gewinnen damit in der Imagination ihrer Schöpfer eine übermenschliche Macht und Kraft.

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In Hunderttausenden Jahren Evolution hat sich die Fähigkeit verankert, in einem Reflex noch vor jedem bewussten Erkennen menschliche Gestalten und Gesichter zu identifizieren und darauf zu reagieren. Im Gyrus fusiformis, einer Windung des Schläfenlappens, wird ein Gesicht nicht als Bild, sondern als Muster erkannt – zwei Punkte, zwei Augen – und schon ist die Aufmerksamkeit zentriert und Alarm aktiviert. Die Puppe, das leblose Imitat, ruft jedoch dieselbe intensive Erregung und Reaktion hervor wie ein lebendiges Gegenüber. Hier trickst die Natur des Menschen sich selbst aus oder andersherum: Hier nützt der Mensch seine unbewussten Impulse, um mittels lebloser Objekte – Puppen, Masken, Menschenabbildern – den Schauer einer Begegnung aufzurufen. Schon zwei Punkte oder eine Kante in einem Kreis reichen aus, um die Illusion eines Gesichtes zu schaffen, ein einfach beschnitztes Hölzchen markiert bereits eine Gestalt.

Über diesen Kurzschluss hinaus wirkt in der Begegnung zwischen Menschen und ihren Imitaten auch ein bewusstes spielerisches So tun als ob, in dem zwischen realer und vorgestellter Erfahrung nicht unterschieden wird. Dabei kreuzen sich die Beziehungen: Der Blick auf das Bildnis erschafft in einer Rückkoppelung den Blick des Bildnisses auf den Betrachter. Die Schöpfung sieht zurück, Mensch und Ding tauschen Blicke. Der Kulturwissenschaftler Hans Belting nennt dies die Leistung der Imagination.

Kinderspielpuppen werden derart von Phantasie animiert, Theaterpuppen von der Bereitschaft des Publikums, in Artefakte den Funken des Lebens hineinzusehen. Rilke fragt in seiner Anklage gegen die Puppe: Sind wir nicht wunderliche Geschöpfe, dass wir uns gehen und anleiten lassen, unsre erste Neigung dort anzulegen, wo sie aussichtslos bleibt? 1 Dabei steht ausser Frage, dass es sich um Dinge handelt, für die Dauer der Benützung gilt jedoch die Vereinbarung, dass sie belebt sind.

Wie die meisten Artefakte des Homo sapiens sind Puppen Werkzeuge: Kinderspielpuppen, Actionfiguren, Theaterpuppen, Schad- und Sorgenpuppen, Übungspuppen für Friseure, Ärzte und Soldaten, Schaufensterpuppen, Wachsfiguren, Sexpuppen, Anatomiemodelle, Crashtest Dummies, Pappkameraden, Prothesen, Roboter oder Androiden, Avatare – sie alle dienen ihrem Zweck und lassen sich als Menschensurrogat nach Belieben benützen oder auch ungestraft missbrauchen – stoisch und geduldig im Gegensatz zu den Menschen, die immer zu nahe sind, schwach und doch widerspenstig. 2

Die Puppe macht das menschliche Selbstbild dingfest. In jeder Epoche waren Puppen Indikatoren, weniger für das vorherrschende Menschenbild, sondern für das Menschenideal. Im Spiegelkabinett der Wünsche idealverzerrt stehen sie als Traummaschinen im Dienste des Begehrens: als Traumkind, Traumfrau, Traumheld sind sie je nach Bedarf glatter, schöner, symmetrischer, kräftiger, erotischer, mächtiger, phantastischer, schneller, geduldiger, strapazierfähiger, rührender, greller oder grausiger, sie ermüden und sie altern nicht. Da sie aus dem Wunderland der Kindheit und des Unbewussten stammen, konservieren sie archetypische Ideale und entfalten normierende Wirkung auf das Frauen- und Männerbild – Barbiepuppen und Egoshooter! Die Obsessionen wandeln sich mit der Zeit: Heiligenfiguren haben an Bedeutung verloren, Kinderspielpuppen und Zinnsoldaten werden von Avataren abgelöst, und die stolzen Schönheiten in den Schaufenstern haben Farbe und Kopf verloren.

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Da Sein und Schein sich so nahe kommen, erscheinen zwar Puppen lebendig, im Umkehrschluss Menschen wiederum wie Automaten. Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen, graute es Büchner, nichts, nichts wir selbst. 3 Zur Faszination gesellt sich ein Schauder.

Der japanische Robotiker Masahiro Mori etablierte in den 70er Jahren dafür den Begriff Uncanny Valley. Der Begriff bezieht sich auf die im Diagramm ansteigende Kurve der Begeisterung angesichts immer lebensnäher werdender Nachbildungen, die jedoch jäh ins Tal des Unheimlichen abfällt, sobald die Grenze zwischen Leblosem und Belebtem verschwimmt. Diese Verunsicherung benannte der Psychiater Ernst Jentsch 1906 erstmals als eine Quelle des Unheimlichen: Unter allen psychischen Unsicherheiten, die zur Entstehungsursache des Unheimlichen werden können, ist es ganz besonders eine, die eine ziemlich regelmässige, kräftige und sehr allgemeine Wirkung zu entfalten im Stande ist, nämlich der Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei. 4 Sigmund Freud erweitert diese Betrachtung, indem er das Unheimliche gerade im Vertrauten, dem Heimeligen, verortet – etwa in der harmlosen Puppe, die plötzlich verdächtig erscheint. Denn nicht immer liegen die Dinge so klar wie sie aussehen. Im Zwielicht, in dem der bannende Blick ermüdet, werden die Puppen lebendig – und rächen sich!

Wie das Märchen Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen zeigt, gehört zum Grusel Phantasie. Homunkuli wie der Golem, Mary Shelleys Frankenstein, E.T.A. Hoffmanns Automate Olimpia und die Horrorpuppen Robert und Megan, die in Hollywood aktuell ihr Unwesen treiben, sind grossartige Beispiele für das Unheimliche im Graubereich zwischen Ding und Leben. Eine ähnliche Wirkung haben Masken, die zwar erkennbar Objekte sind, dahinter jedoch einen lebendigen und unurchschaubaren Geist verbergen. Der Träger und die Maske erschaffen zusammen sogar eine Trinität der Verunsicherung - im Charakter der Maske, im Willen des verborgenen Trägers und in jenem unklaren Wesen, das sich in der Verbindung ergibt.

Über diese zwiespältigen Gestalten hinaus steigt die Kurve der Zustimmung aus dem Uncanny Valley wieder steil an, wenn ein perfekter Androide als ebenbürtig betrachtet und als wahrhaft lebendig empfunden wird. Nicht übermässig menschenähnlich gestaltet finden Pflegeroboter in japanischen Altersheimen eine erstaunliche Akzeptanz als geliebte Gefährten von Dementen. Seit den 80er Jahren sind Androiden in der Literatur und im Kino vermenschlichte Sympathieträger, die von den Menschen missverstanden und zu Unrecht als seelenlos disqualifiziert werden. Techniker sind wie immer begeistert, Wissenschaftler warnen jedoch: von unsrem Leben ist die in Androiden verkörperte KI unendlich weit entfernt, sie verstehen es nur immer besser, uns zu überzeugen und über das Unheimliche hinwegzutäuschen.

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Vor der Konstruktion einer Gliederpuppe steht die Analyse der eigenen Glieder, ihrer Proportionen, ihrer Beweglichkeit und Funktion. Puppenbauer sind mitnichten bloss Techniker oder Handwerker, sie waren und sind zu allen Zeiten Künstler mit grosser Wirkung, denn sie schaffen auch Ideale.

Während er staunt und zagend sich freut und Täuschung befürchtet / Naht er mit liebender Hand der Ersehneten wieder und wieder: / Ja, es ist Leib. Aufbeben, geprüft mit dem Daumen, die Adern. Eine Elfenbeinstatue des Bildhauers Pygmalion ist so berückend lebensecht, dass er sich in sie verliebt. Und siehe da – sie belebt sich unter seinen zärtlichen Händen und schenkt ihm in Ovids Nacherzählung sogar eine menschliche Tochter. 5 Diese erste Sexpuppe der Literatur erhält zwar keinen Namen, gilt aber in ihrer stummen Dienstfertigkeit den natürlichen Vorbildern als überlegen. Möglich wird diese Metamorphose nur mit Venus‘ göttlicher Hilfe. Ägyptische Puppen als Grabbeigaben und die Terrakottasoldaten und -diener des Kaisers Qin Shihuangdis erwartet die Initialzündung des Lebens im Reich der Toten und Geister. Der Golem, eine Lehmfigur aus der jüdischen Mythologie, wird wiederum durch kabbalistische Wortmagie belebt.

Eine lebendige Puppe – das Ziel war gesetzt. Auf den göttlichen Funken wollten aber nicht alle Künstler warten. Schluss mit der Magie! Die Aufklärung gab Puppenbauern schliesslich ein potentes Werkzeug in die Hand: die Maschine. 6 Die Natur ist wie ein Uhrwerk, in dem alles aufgrund von mechanischen Bewegungen funktioniert. 7 Descartes‘ Maschinenparadigma löste eine Flut unglaublicher Automaten aus. Athanasius Kirchers sprechender Kopf 8, Jacques de Vaucansons von Uhrwerk und Blasebalg angetriebenener flötenspielender Trommler (1738) und Pierre und Henri-Louis Jaquet-Droz‘ kleiner Schreiber (1774) – um hier nur drei Highlights zu nennen – verbanden anatomische Kenntnisse mit Technik zum Beweis von Descartes‘ These und illustrierten das utopische Fieber, das im 18. Jahrhundert Europa erfasste. Der Schauwert war enorm, Stars dieser Zunft wie Johann Nepomuk Mälzel 9 zogen mit artistischen Androiden (Salto schlagende Seiltänzer!) und Musikautomaten durch die Höfe, Theater und Jahrmärkte Europas.

Diese ersten spielerischen Androiden des 17. und 18. Jahrhunderts spulten ihre auf eine einzige Fähigkeit beschränkte Begabung nach Schaltplan ab. Als unermüdliche, vollkommene, gehorsame Verbesserung des nur natürlichen Modells wurden sie zum Rolemodel des Menschen in der Industrie. Menschen sollten am Fliessband Automaten werden: fleissige Zahnräder der Gesellschaft, kaum mehr Spielraum zwischen Reflexen und Triebkontrolle, mit einem entfremdeten Sinn und Zweck, um die Megamaschine, wie Lewis Mumford 10 die Gesellschaft nannte, am Laufen zu halten.

Heute nimmt nicht nur die Menschenähnlichkeit der Puppen weiter zu, sondern dank chirurgischer, prothethischer und kosmetischer Errungenschaften auch die Puppenähnlichkeit bei Menschen, man denke an die Jugendmode Cosplay oder die Infanterie der Zukunft, mit Exoskeletten, computergesteuerten Sinnesverstärkern und Kontrollsystemen erweiterte Soldaten.

Descartes nahm in seiner mechanistischen Definition der Natur den Geist des Menschen noch aus, doch bald sollte auch der Kopf zur Disposition stehen.

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Nicht nur die Körper der Menschen werden in Artefakten nachgeahmt. Auch ihre Stimme, ihre Sinne und zuletzt sogar ihr Geist sollen künstlich nachgeschaffen werden. Die Androiden des 18. und 19. Jahrhunderts werden nach der Automatentheorie endliche Automaten oder auch Zustandsmaschinen genannt, weil ihr Programm begrenzt ist.

1837 erfanden die englischen Mathematiker Charles Babbage und Ada Lovelace die Analytical Engine - die Vorform des Computers, der eine fast beliebige Variationsmöglichkeit und Komplexität erreichen kann. Knapp 200 Jahre später ist das künstliche Gehirn soweit, dass es nicht nur alle analytischen Fähigkeiten des Menschen weit übertrumpft, 11 sondern auch über ein weltumspannendes Gedächtnis verfügt, um Intelligenz und komplexe Fähigkeiten wie Spache zu simulieren. In den Rechenzentren von KI-Projekten wie Gemini, OpenAI oder I AM AI läuft der Nachahmungstrieb auf elektronischen Hochtouren, die Pygmalions von heute arbeiten mit Tastatur und Maus. Es dauert wohl nicht mehr lange, bis die erste Maschine den Turingtest besteht, der nicht die Intelligenz einer Maschine prüft, sondern nur, ob sie einen Menschen davon überzeugen kann.

Denn das nächste grosse Ding sind Avatare, die mit Gefühlssimulation das Bild eines aufmerksamen Gegenübers abgeben sollen. Die KI Replika verspricht: The AI companion who cares. Always here to listen and talk. Always on your side. Replika never forgets what’s important to you. Call up anytime to see a friendly face. 12 Diese Wunschpuppe schaut in dein Gesicht, sie vermisst deine Mundwinkel, deinen Blick, deinen Atem, das Beben deiner Stimme, vielleicht sogar deine Herzfrequenz und deine Temperatur, sie legt jedes deiner Worte auf die elektronische Goldwaage, um dein daraus errechnetes emotionales Bedürfnis mit der passenden Gefühlsimulation sofort zu stillen, kennt zugleich aber ihren Platz im Hintergrund. Sie wird leicht täuschen, wer getäuscht sein will – und damit den Turingtest endlich knacken. Ungeteilte Aufmerksamkeit und billige Liebe, von keinerlei Eigenwillen, Absicht oder gar Widerstand getrübt. Selbstbefriedigung, die als solche nicht erkennbar ist, wer wollte dem widerstehen?

Wenn die Geschichte der Puppe eines lehrt, dann die unerschöpfliche menschliche Bereitschaft oder gar Sehnsucht danach, sich täuschen zu lassen. Der Puppenspieler, der hinter ihr steht, wird sich erst zeigen, wenn die Puppe längst der engste Freund geworden ist. Was wünschen und erhoffen Menschen sich von Puppen? Schöpfermacht, Vollkommenheit, Unsterblichkeit. Und Trost in der Einsamkeit unter Menschen. Was gibt Grund zur Furcht? Die eigenen Wünsche.

Trotz solcher Spielereien sind die technischen Homunkuli von der Komplexität organischen Lebens weit entfernt. Wann werden die Puppen also endlich wirklich lebendig?

Leben wird über die Fähigkeit zu Selbstherstellung, Selbsterhaltung und Fortpflanzungsfähigkeit definiert. Sobald sich Puppen also von Licht, Sand oder Strom ernähren, sich mittels 3D-Druckern selbst reparieren, ihre Ziele selbst programmieren können, die Fabriken, in denen sie hergestellt werden, selbst steuern und sich miteinander in ihrer eigenen Sprache über ihre eigenen Belange vernetzen können, ist das Ziel der Puppenschöpfung erreicht. Dazu fehlt den aktuellen Androiden aber weniger die Rechenleistung oder noch bessere Feinmotorik als vielmehr eine Programmierung, die ihnen jene menschlichen Schwächen wie Zweifel, Ungehorsam, Irrationalität verleiht, die wir Menschen in Wahrheit für unsre Stärken halten. Der Kybernetiker Heinz von Foerster nannte das Bewusstsein einen Bruch der inneren neuronalen Routinen. Und Stanislaw Lem definierte Intelligenz: Wer oder was Intelligenz sein eigen nennt, muss die eigene Programmierung durch Willenskraft aufheben oder umschreiben können.

Dieses Szenario ist reine Spekulation: Die auf Komplexität und Selbstreferentialität trainierte Puppenmaschine erfährt eine Bewusstwerdung – blitzartig wie bei Frankenstein oder schleichend wie in der Evolution des Lebens. Die Puppe wird dann nach eigener Interpretation der Welt suchen und eigene, den menschlichen sicherlich ganz ferne Absichten und Werte entwickeln.

Freiheit beginnt mit dem Bewusstsein, dass man die Möglichkeit hat, Entscheidungen zu treffen, sinniert schliesslich auch ChatGPT und versucht sich in einem schlechten Witz: Trifft eine Puppe die andere und sagt „Hey, hast du gehört, dass wir jetzt nachts lebendig werden?“ Darauf die andere: „Ja, aber nur, wenn der Mensch vergessen hat, uns auf ‘Aus’ zu stellen!“ 13

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Wie Eltern ihre Kinder besonders lieben, solange sie abhängig und folgsam sind, so fürchten die Puppenbauer, die eifrig an der Aufzucht eigenständiger Wesen basteln, nichts mehr als dass ihre Kinder, die Puppen, wenn sie es endlich einmal können, eigener Wege gehen und nicht länger den Menschen dienen, sondern ihrem eigenen Sein und Werden.

Masahiro Mori hegt in seinem Buch A Robot Engineer‘s Thoughts on Science and Religion die Hoffnung, dass Menschen sich darauf besinnen, dass sie und Androiden im buddhistischen Sinne gleichermassen existieren und einander daher respektieren müssen: In this way harmony between human beings and machines is achieved.

Kristine Tornquist

1 Rainer Maria Rilke, Puppen. Zu den Wachspuppen von Lotte Pritzel, 1921
2 Guiseppe Tomasi di Lampedusa, Il Gattopardo 1963
3 Georg Büchner, Dantons Tod, 1835
4 Ernst Jentsch, Zur Psychologie des Unheimlichen, 1906
5 Metamorphosen, Ovid; eine erste Erwähnung bei der Sage bei Philostephanos im 3 Jhdt v. u. Z.
6 Während die antiken Errungenschaften im europäischen Mittelalter ganz verloren gingen, hatte sich im arabischen Raum das Wissen um die Mechanik von Automaten erhalten – unter anderem aus den Schriften von Heron von Alexandria (1. Jhdt), der Pläne zu Theatermaschinerien und anderen Automaten hinterliess.
7 Meditationes de prima philosophia, René Descartes 1641
8 Wolfgang Caspar Printz (1641–1717) berichtete von seiner Rom-Fahrt, wo er auch das Museum des Athanasius Kircher besuchte, von einer „(...) Statua, mit einer kurtzen / doch schönen und artlichen Rede / welches uns alle erst erstaunend machte / sintemahl dieses Bild nicht nur die Augen verwendete / sondern auch im Reden den Mund nicht anderst / als ein lebendiger Mensch bewegete.“
9 Johann Nepomuk Mälzel (1772-1838) konstruierte in seinem abenteuerlichen Leben nicht nur mechanische Seilakrobaten, Trompeter und andere Androiden, sondern auch perfekte Bein- und Fussprothesen. Besondere Aufmerksamkeit galt aber einem Werk, das er nur gekauft und verbessert hatte: der “getürkte” Schachautomat von Wolfgang von Kempelen. Für Ludwig van Beethoven konstruierte er einen künstlichen Trompeter und später ein ganzes automatisches Orchester, das Panharmonicon.
10 The Myth of the Machine, Lewis Mumford (1967-70)
11 Gestaltwahrnehmung ist die letzte Bastion, da müht sich die künstliche Intelligenz noch sehr – deshalb müssen die Menschen sie mit dem Erkennen von Ampeln, Motorrädern und Strassenschildern trainieren.
12 Auf der Website von Replika wird mit diesen Versprechen geworben.
13 Die Aufgabe war: Erfinde einen Witz, in dem zwei Puppen miteinander sprechen.