Von der Kunst zur Oper
Ich hatte gerade eine riesige und tonnenschwere Stahlskulptur fertiggestellt und war frustriert, keinen kostenlosen Lagerraum dafür zu finden, wo ich die Skulptur bis zur nächsten Präsentation lagern konnte. Das Kreuz tat mir weh, der Eisenstaub war mir unter die Haut gekrochen, die Materialien und Transporte waren teuer, alles war entsetzlich real und beschwerlich. Ich hatte genug vom Material, seinem Gewicht und seiner Endlichkeit, ich sehnte mich nach reinen Gedanken, nach Idee, nach dem Immateriellen, das leichtfüssig über dem Boden schwebt. Mit Pasolini: Wozu etwas realisieren, wenn man es eigentlich nur erträumen muss: ich hatte sowieso immer an den Vorrang der Idee vor der Umsetzung geglaubt. Und so hängte ich über Nacht (es war Silvester) den Bildhauerberuf an den Nagel, um Schriftsteller zu werden: der immateriellste Beruf, den ich mir vorstellen konnte.
Aber reine Ideen haben natürlich auch ihre Schattenseiten. Im Fall des Schreibens ist das zum Beispiel die Schublade, die erst wochen-, dann monate-, dann jahrelang alles absaugt. In der Werkstatt hatte ich jeden Abend immer messbar und berührbar vor Augen, was ich am Tag gemacht hatte, die Arbeit war ohne Zweifel in die Welt getreten und als Spuren meiner Idee in vollem Gewicht übriggeblieben. Die Texte aber wurden zwar länger und länger und ab und zu druckte ich sie auch aus, aber eigentlich waren sie irreal im negativen Sinn und inexstent, solang sie nicht gelesen wurden und damit durch die Augen oder Ohren anderer Menschen in den Kreislauf der Gesellschaft gebracht waren. Als Bildhauer hatte ich die Kunstrezipienten nicht unbedingt für eine Bedingung der Kunst gehalten, für mich als Autor waren sie plötzlich unabdinglich. Ich hatte jedenfalls bereits nach drei Monaten das Bedürfnis nach Feedback, nach Wirklichkeit - danach, durch die Spiegelung, den Widerspruch oder das Interesse anderer Geister zum Künstler zu werden.
Mir war aber bewusst, dass es ein immenses Geschenk war, wenn jemand meine Kurzgeschichten (etwa über den Spaziergang des Teufels am Schottenring) las, und keine Selbstverständlichkeit. An stumme, geduldige Leser glaubte ich nicht so recht, an eine flotte Karriere als Bestsellerautor sowieso nicht. Und so kam ich aus Not zum Theater: ich wollte dabei sein, wenn meine Ideen (die Texte) Wirklichkeit wurden.
Obwohl ich zuerst nur relativ anspruchslose szenische Lesungen organisierte (Theater am Sofa wurde zusammen mit Stephan Schaja in meinem Wohnzimmer geboren), musste ich schnell realisieren, dass Theater kein Dokumentationswerkzeug für Texte ist. Sondern viel mehr. Ich strickte Kostüme, schweisste Bühnen, telefonierte, ich suchte Sponsoren, ich verwöhnte Schauspieler, telefonierte, ich las wie besessen Theatertheorie, um den Proben gewachsen zu sein, ich kontaktierte andere Autoren, beauftragte Musiker, telefonierte, bastelte Kronen, Masken und andere Requisiten, layoutete Einladungskarten, versöhnte Streithanseln und stritt selber, diskutierte mit Raumbesitzern, ich dramatisierte, engagierte (ohne Geld), inszenierte (noch bevor ich wusste, was das ist), produzierte (ohne dieses pompöse Wort dafür zu verwenden). Und so trat, ohne dass es eine bewusste Entscheidung dafür gab, sozusagen durch die Hintertür, der Geist des Theaters in mein Künstlerleben.
Bis jetzt weiss ich nicht, ob das Kunst und Theater wirklich eine gemeinsame Schnittstelle haben, zu unterschiedlich ist das Erschaffen eines Kunstwerkes, wie ich das zB aus der Bildenden Kunst kenne, und diesem nie ganz kontrollierbaren Moderieren der unterschiedlichen und widerstrebenden Kräfte, als das ich das Theater erlebe. Obwohl Theater in seinem kurzen Lebens-Moment so besonders real und physisch existiert, ist es doch ein unfassbarer Vorgang, der wie alles Organische keine festen Grenzen, keine fixierbare Form, keine Dauer hat. In allen Phasen der Enstehung Diffusion, Vermischung und Befruchtung, ein wuchernder Urwald, in dem eins im anderen wurzelt. Die zeitgenössische Definition von Kunst hat immer noch sehr viel mit Autorenschaft zu tun - Kunst lebt nach wie vor von der Idee des Einzelgenies aus der Aufklärung und vom Geniekult des 19. Jahrhunderts - auch wenn es mittlerweilen gelegentlich Gegenströmungen gibt, die das Kollektive wieder aufnehmen wollen. Sie lässt einen Künstler ein Werk wie eine Materialisation seiner selbst als Opfer, als Geschenk, als Konfrontation vor eine Zuschauerschaft hinstellen und ist damit eine besondere Form der Kommunikation. Der Moment und der Ort der Konfrontation sind nicht von Bedeutung: von Bedeutung ist nur die Berührung zweier Geister, zweier Wahrnehmungen vis-à-vis.
Ganz anders integriert das Theater seine Adressaten. Da ich als Künstler bezüglich der Unverzichtbarkeit meiner Arbeit immer unsicher war und bescheiden bin, hatte ich schnell das Bedürfnis, das Publikum, das so nett war, unseren Versuchen beizuwohnen, zum Dank dafür zu verwöhnen und es wie einen Akteur einzuplanen, mit einer Rolle, einem Gefühl, einer Ausstrahlung zu versehen, ihm an allen Fronten etwas bieten: avant und apres Erstaunen und Erlebnisse, Gastronomie, einen spannenden Sitzplatz und: es selbst. Denn das Publikum und der Spielort sind ebenso wesentliche Teile wie das Spiel selbst. Dadurch greift Theater - auch wenn Kunst ein Teil des Theater sein kann, allerdings auch nicht muss, wie man oft genug festellen kann - über Kunst hinaus. Ich ordne Theater deshalb lieber unter Kult ein: das rituelle Zusammentreffen einer strukturierten und in Rollen und Hierachien geordneten Gesellschaft. Keiner ist wichtiger als der andere, oder sagen wir besser: jeder ist auf den anderen angewiesen, das Ganze ist immer nur so gut wie der schwächste seiner Teile, die Klarheit und Zielgenauigkeit gemeinsamen Wollens machen erst seine rätselhafte und magische Qualität aus. Der Geist des Theaters ist - verglichen mit dem Extrahieren, Filtern und Konzentrieren in der Arbeit als Bildhauer und Autor - geradezu das Gegenteil: De-Konzentration, Verästelung und Verflechtung. Der Sog des realen Theaters ist Überforderung, Kompromiss, Atmosphäre.
Seitdem habe ich oft und schmerzhaft erlebt, was der Sog des Theaters für mich als Künstler, als Solist bedeutet. Vor allem seit ich - infiziert vom Theatervirus - noch mehr Theater als Theater wollte und die Oper fand. Das sirene Operntheater entstand für mich (Jury Everhartz, mit dem ich seit 1999 zusammenarbeite und lebe, hatte als Musiker andere Motive) aus dem Bedürfnis, in meinen Gemischtwarenladen aus Bild, Text, Schauspiel, Regie etc noch die Musik als eine besonders bestrickende Kunstform dazuzuordnen. Wenn schon, denn schon.
Oper ist aber wieder etwas ganz anderes. Als Zuschauer empfinde ich das besondere Erlebnis in der Oper als das Gefühl, unter Wasser getaucht zu werden und die Welt in einer anderen Dichte zu erleben - die extreme und durch nichts verstellte, absurde Künstlichkeit einer gesungenen Geschichte verlangsamt die Vorgänge, die Musik emotionalisiert und abstrahiert zugleich auf eine völlig andere Art als Text das zuwege bringt. Während Theater (wie ich es erfahren habe) ein grellwaches Beschleunigen von Zeit ermöglicht, zieht die Oper in Träume hinein, deren Zeitwahrnehmung nichts mit Sekunden und Minuten zu tun hat und deren Deutlichkeit im idealen Fall Ahnung ist. Eine Ahnung, die ich dem Wissen vorziehe.
Vordergründig gewann ich als Autor einen Gleichgesinnten, den Komponisten, aber als Regisseur verlor ich die Kontrolle (zB über das Zeitmanagement). Mozart schrieb vor Chorstellen praktische Vorspiele, damit der Chor Zeit hatte, sich auf der Bühne einzuräumen, aber nicht alle Komponisten denken so dramaturgisch und nicht immer will der Regisseur einer vorgegebenen Dramaturgie folgen müssen. Arien eröffnen auf der Bühne Zeitblasen innerhalb der Geschichte, Sänger sind nicht immer Schauspieler und kompliziertere Zusammenhänge muss die Regie oft im Alleingang verständlich machen, da das Libretto in der Oper meistens zum Subtext wird, da er - seien wir ehrlich - nur in Fragmenten zu verstehen ist. Die Beziehung zwischen Komponist und Autor ist komplex. Und der Regisseur bekommt ein paar neue Probleme (Die Rechte der Akustik, die Sicht auf den Dirigenten, die Unterordnung der Szene unter die Gesetze des Gesangs, die Positionierung des Orchesters, die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten etc etc), denn Oper integriert noch viel mehr unterschiedliche Kräfte als Sprechtheater oder Tanz. Die reale Oper ist nicht nur eskalierend teurer, sondern auch ein ungleich höherer Kompromiss für alle Beteiligten. Und - da wurden meine Bildhauereierinnerungen geweckt - ein noch höherer Materialaufwand. Eine Oper mit all den Klavieren (zum Beispiel 12 Stück bei „das Krokodil“ 2004), Orchestermusikern und Bühnenaufwänden wiegt weit mehr als meine grossen Eisenskulpturen (die im übrigen inzwischen verschrottet sind).
Doch das wiederum eröffnet im Sinne des Theatergeistes der Vernetzung ganz neue Herausforderungen. Zum Beispiel an den Textautor. Weil von seiner eigentlichen Arbeit als Wortkettenfädler so wenig übrigbleibt, tritt eine andere Kunst - wenn nicht sogar die Urkunst schlechthin - in den Vordergrund: das Geschichtenerzählen.
War das Auflösen narrativer Konventionen eines der Hauptinteressen der Kunst im 20.Jahrhundert - abstrakte Malerei, konkrete Poesie, undramatische Theaterliteratur, serielle Musik, experimentelle Romanstrukturen, der Experimentalfilm, das abstrakte Musiktheater etc. - so mehren sich die Anzeichen, dass sich die Kunst des 21.Jahrhunderts der narrativen Form, der Geschichte unter neuen Vorzeichen wieder zuwenden wird.
Wenn das Bild die effizienteste Darstellung einer Situation ist, die Musik und das Gedicht die intensivsten Darstellung einer Emotion ermöglichen, die Formel die knappeste Beschreibung eines logischen Zusammenhanges, so bietet die Geschichte die eindringlichste und komprimierteste Form, mehrsträngige und komplexe Abläufe darzustellen. Der Lebenslauf einer Geschichte ist mit dem Lebenslauf des Menschen in seinen Entwicklungsstadien vergleichbar: durch vorgegebene Entwicklungsstufen und -krisen auf ein Ziel hin: entweder die Katastrophe (der Tod) oder die Befriedung (die imaginierte Unsterblichkeit, in der zum Beispiel alle Märchen enden).
Und so fand ich ausgerechnet in der Oper diesen Spuk, der durch alle Künste, durch alle Kulte und Kulturhandlungen gleichermassen hindurchweht und der, ohne sich als Solist aufzudrängen, zu jeder Verknüpfung mit jeder Kunstform bereitsteht, eine archaische Urkunst, die beste aller Künste, an deren Wesen wir teilhaben können, ohne es jemals für uns allein reservieren zu können - das Geschichtenerzählen als Podest für Musik, Dramatik, Literatur, Bildende Kunst.
Natürlich ist die Oper ein Topf, in dem die einzelne Kunst verkocht wird. Das Leben zwischen der Realität des Theaters und den Ansprüchen der Kunst ist schmerzhaft, wird immer schmerzhaft bleiben. Manchmal sehne ich mich nach der solistischen Kür, nach Vervollkommnung, nach hermetischer Identität. Doch letztlich weiss ich die Reibung zu schätzen: sie wärmt.